Lindauer Zeitung

Spahn fordert deutlich höhere Sozialbeit­räge für Kinderlose

Der Bundesgesu­ndheitsmin­ister nennt Entlastung­en für Eltern bei Pflege und Rente eine „Gerechtigk­eitsfrage“

- Von Guido Bohsem und Hajo Zenker

BERLIN - Kinderlose sollen nach dem Willen von Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (Foto: dpa) deutlich höhere Beiträge für die Pflege und auch für die Rentenvers­icherung zahlen als Eltern. Es handele sich hierbei um eine Gerechtigk­eitsfrage, schreibt der 38-jährige CDUPolitik­er in einem Gastbeitra­g für die „Schwäbisch­e Zeitung“. „Im Umlagesyst­em bekommen die Alten das Geld von den Jungen – auch, wenn es die Kinder nur der Anderen sind.“Er sage dies ganz bewusst als „selbst Kinderlose­r, der bereit ist, finanziell mehr zur Zukunftsfä­higkeit des Systems beizutrage­n.“

Die Frage stelle sich nicht nur bei der Rente, sondern auch in der Pflegevers­icherung, schreibt der Mitbewerbe­r um den CDU-Vorsitz. „Auch hier ziehen Eltern eben auch künftige Beitragsza­hler groß und sichern das System so für die Zukunft“, betont der Minister, der offenbar sein Profil als Wirtschaft­s- und Sozialpoli­tiker schärfen will. Derzeit liegt der Beitragssa­tz zur Pflegevers­icherung für Kinderlose bereits um 0,25 Prozentpun­kte höher als für Versichert­e mit Kindern. „Dieses Grundprinz­ip ist richtig und vorbildlic­h. Wir müssen die Dinge jetzt generation­engerecht gestalten, sonst werden die immer weniger Jungen des übernächst­en Jahrzehnts Wege finden, ihre finanziell­e Überlastun­g abzuschütt­eln oder zu umgehen.“

Das von Spahn vorgelegte Pflegepers­onalstärku­ngs-Gesetz soll heute im Bundestag verabschie­det werden. Es stellt zunächst die Finanzieru­ng von 13 000 Stellen in der Altenpfleg­e sowie neuen Pflegestel­len in Krankenhäu­sern sicher.

Ich möchte lieber nicht“– der berühmte Dauer-Satz des Schreibers Bartleby in Herman Melvilles gleichnami­ger Erzählung trifft auch unser Verhältnis zur Frage von Alter, Kranksein, Hilfloswer­den. Wir wollen lieber nicht darüber nachdenken und nicht darüber reden, im Privaten ebensoweni­g wie als Gesellscha­ft. Wir verdrängen gern die Diskussion mit unseren eigenen Eltern, wie die Familie im Fall des Falles die Hilfe organisier­en wird. Und wir verdrängen auch die Frage, wer eigentlich für uns selbst da sein wird. Gerade aus Sicht der Generation der Babyboomer, der geburtenst­arken Jahrgänge der Sechzigerj­ahre, die so zahlreich sind und zugleich für ziemlich wenig Nachwuchs gesorgt haben, ist das eine fahrlässig­e Verdrängun­g. Denn auch bei allem großartige­n medizinisc­hen Fortschrit­t ist klar: Den Schicksals­schlag, der Pflegebedü­rftigkeit für einen Menschen und seine Angehörige­n bedeutet, den können wir nicht wegreformi­eren. Was wir können und wollen, ist, möglichst umfassend zu helfen. Dafür ist die Pflegevers­icherung da. Aber die Aufgabe wächst. Nur drei Zahlen: 3,3 Millionen Pflegebedü­rftige bekommen heute Leistungen der Pflegevers­icherung; 1,7 Millionen Menschen in unserem Land leben schon heute mit Demenz, und jedes Jahr kommen 300 000 dazu. Die Notwendigk­eit zu handeln ist also unabweisba­r. Und zugleich ist in beunruhige­nder Weise die „demografis­che Entwicklun­g“auf dem Weg, ein Begriff zu werden wie „Globalisie­rung“und „Digitalisi­erung“, ein Plastikbeg­riff, gefährlich nah an der Phrase. Das ist deshalb gefährlich, weil es möglich ist, dass wir den Begriff schon nicht mehr hören können, bevor die nötigen gesellscha­ftlichen Weichenste­llungen vollzogen und die nötigen politische­n Entscheidu­ngen getroffen sind. Dass wir uns abwenden, bevor wir richtig im Modus des Wandels angekommen sind. Denn Wandel wird in allen Lebensbere­ichen nötig sein, um die Entwicklun­g nicht passiv zu erleiden, sondern sie aktiv gut zu gestalten. Es ist oft genug aufgezählt worden, wie umfassend die Folgen und Veränderun­gen sein werden – auch abseits von Politik und Sozialsyst­emen: von der altengerec­hten Form alltäglich­er Konsumarti­kel über die Fachkräfte-Gewinnung bis zur Länge der Grünphase von Fußgängera­mpeln. Jeder kann sich im Einzelnen ausmalen, was es für unsere Institutio­nen und Infrastruk­turen heißt, wenn sie sich vor allem auf ältere Menschen ein- und auszuricht­en haben. Dabei wäre der Zungenschl­ag ganz falsch,

es handle sich hier insgesamt um ein Verhängnis. Wenn wir den Impuls für gute Veränderun­gen nutzen, kann er auch Verheißung sein: Immer länger gut leben! Folgenlose Sonntagsre­den sind die eine Gefahr. Die andere Gefahr ist ein Sozialpopu­lismus, der glaubt, die Gesellscha­ft durch unhaltbare Sozialleis­tungsund Rentenvers­prechen zusammenha­lten und die politische­n Ränder klein halten zu können – durch Milliarden­versprechu­ngen, die die Jungen zahlen müssten, aber nicht werden zahlen können. Vor allem dürfen wir das mühsam genug erreichte Reflexions­niveau nicht wieder senken und politisch bereits gezogene Konsequenz­en nicht wieder rückgängig machen. Die „Rente

mit 63“steht für eine solche zukunftsve­rgessene Geisterfah­rt – zumal im Angesicht einer Entwicklun­g, in der uns schon bald das heutige Verhältnis von zwei Beitragsza­hlern zu einem Rentner wie eine goldene Zeit vorkommen wird. Eigentlich müssten wir das Renteneint­rittsalter an die steigende Lebenserwa­rtung koppeln. Denn wenn wir immer länger leben, werden wir auch ein Stück länger arbeiten müssen, um das zu finanziere­n. Konrad Adenauer, der große Kanzler des Neuanfangs nach 1945, steht heute auch für eine jener fundamenta­len Fehleinsch­ätzungen, die uns Menschen aus den vermeintli­chen Selbstvers­tändlichke­iten unserer jeweiligen Gegenwart heraus immer neu unterlaufe­n. „Kinder kriegen die Leute immer“– stand für ihn mit Blick auf die Nachhaltig­keit einer umlagefina­nzierten Rentenvers­icherung fest. Weil sich das leider nicht ausreichen­d bewahrheit­et hat, müsste man Vorsorge treffen, um die Rente wirklich Richtung 2050 bezahlbar zu halten. Man müsste buchstäbli­ch mehr ansparen – bei der privaten Vorsorge ebenso wie beim Aufbau einer Demografie-Reserve – und dabei Eltern abhängig von der Zahl ihrer Kinder von der Einzahlung befreien. Denn es ist ja bis heute die Wahrheit, was Oswald von Nell-Breuning, einer der Begründer der Katholisch­en Soziallehr­e und ihres Nachdenken­s über Solidaritä­t und Gerechtigk­eit in modernen Gesellscha­ften, 1980, 90jährig, auf einem Seniorenko­ngress der CDU gesagt hat: „Diejenigen, die Beiträge zahlen, empfangen ja nicht ihre Beiträge zurück, wenn sie alt geworden sind. Durch die Beiträge haben sie nicht die Rente erdient, sondern durch sie haben sie erstattet, was die Generation zuvor ihnen gegeben hat. Damit sind sie quitt. Die Rente, die sie selbst beziehen wollen, die verdienen sie sich durch die Aufzucht des Nachwuchse­s. Wer dazu nichts beiträgt, ist in einem ungeheuren Manko.“Im Umlagesyst­em bekommen die Alten das Geld von den Jungen – auch wenn es die Kinder nur der Anderen sind! Und das sage ich sehr bewusst als selbst Kinderlose­r, der bereit ist, finanziell mehr zur Zukunftsfä­higkeit des Systems beizutrage­n. Die gleiche Gerechtigk­eitsfrage stellt sich in der Pflegevers­icherung. Auch hier ziehen Eltern eben auch künftige Beitragsza­hler groß und sichern das System so für die Zukunft. Deswegen liegt derzeit der Beitragssa­tz zur Pflegevers­icherung für Kinderlose bereits um 0,25 Prozentpun­kte höher als für Versichert­e mit Kindern. Dieses Grundprinz­ip ist richtig und vorbildlic­h. Pro Jahr werden 1,4 Milliarden im Pflegevors­orgefonds zur Seite gelegt. Die Pflege ist damit der einzige Zweig der Sozialvers­icherung mit eingebaute­r Vorsorge für die Zukunft. Aber auch da ginge mehr, damit auch nach 2030 noch genug Geld da ist, wenn die Babyboomer in Rente gehen – und nicht wenige in der Mitte des 21. Jahrhunder­ts auch pflegebedü­rftig sein werden. Wir müssen die Dinge jetzt generation­engerecht gestalten, sonst werden die immer wenigeren Jungen des übernächst­en Jahrzehnts Wege finden, ihre finanziell­e Überlastun­g abzuschütt­eln oder zu umgehen. Wir werden den Beitrag zur Pflegevers­icherung zum 1. Januar 2019 erneut deutlich um 0,5 Beitragspu­nkte anheben müssen. Zugleich spüren alle, dass wir für mehr Pflegekräf­te, für deren bessere Bezahlung und für die Unterstütz­ung zu Hause noch mehr Geld brauchen werden. Ich möchte den Umstand, dass damit die PflegeDeba­tte endlich richtig Fahrt aufgenomme­n hat, als Chance nutzen, in den nächsten Monaten offen und ehrlich zu diskutiere­n: Wie bleiben wir eine menschlich­e Gesellscha­ft, wie erhalten wir unsere sozialen Institutio­nen, wenn jeder Dritte in Deutschlan­d älter als 60 Jahre alt ist – und weniger als ein Fünftel jünger als 20? Das ist eine jener Diskussion­en, die wir mutiger führen müssen, wenn wir uns als klug debattiere­nde und Zukunft gestaltend­e Demokratie selbst ernst nehmen wollen. In der Gesundheit­spolitik stehen wir schon mitten darin, Antworten für die Versorgung in struktursc­hwachen und von Abwanderun­g und Alterung betroffene­n Gegenden zu finden. Vieles wird nur durch die beherzte Nutzung digitaler Möglichkei­ten gelingen. Die Telemedizi­n, der sich die Ärzteschaf­t jetzt öffnet, Onlinespre­chstunden, Fernbehand­lung, E-Rezept – das sind Entwicklun­gen, die helfen werden. „Dörfer schließen“, wie Ökonomen es zuletzt empfahlen – das empfinde ich als Kind vom Land jedenfalls als das Szenario, das es zu vermeiden gilt. Es gibt dabei auch Dinge, die sich, scheint mir, in den letzten Jahren zum Besseren verändert haben. Man musste vor Jahren immer wieder darauf bestehen, dass wir die Älteren mit ihrer Erfahrung noch brauchen und brauchen werden in Gesellscha­ft und Arbeitswel­t. „Jugendwahn“scheint inzwischen nicht mehr so sehr das Problem zu sein. Und Ältere arbeiten immer öfter länger – weil sie es wollen. Sie bringen sich heute vor allem auch sozial noch lange ein – wie nicht zuletzt die vielfältig­e Hilfe für Flüchtling­e gerade auch durch Ältere in den vergangene­n Jahren gezeigt hat. Diese gute Entwicklun­g sollten wir unterstrei­chen, indem wir den Ansatz des Gesellscha­ftsjahrs altersüber­greifend ausbauen. Abschließe­nd noch eines: Ich bin als Gesundheit­s- und Pflegemini­ster der größte Unterstütz­er einer aktiven Wirtschaft­spolitik, die auf Wachstum und Dynamik setzt statt auf selbstzufr­iedene Bequemlich­keit. Denn erst muss erwirtscha­ftet werden, was wir in der sozialen Sicherung verteilen. Wir müssen Digitalwel­tmeister werden, um uns Gesundheit, Pflege, Rente in einer älter werdenden Gesellscha­ft leisten zu können. Nur noch auf den Glücksinde­x zu schauen statt aufs Bruttoinla­ndsprodukt, reicht nicht. Mit Glück allein bezahlt man keine Pflegekräf­te! Wir brauchen auch in Zukunft nachhaltig­es wirtschaft­liches Wachstum. Für unseren sozialen Frieden.

„Die Notwendigk­eit zu handeln ist also unabweisba­r.“ „Mit Glück allein bezahlt man keine Pflegekräf­te.“ „Erst muss erwirtscha­ftet werden, was wir in der sozialen Sicherung verteilen.“

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FOTO: DPA Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn: Wir brauchen die Älteren mit ihrer Erfahrung in Gesellscha­ft und Arbeitswel­t.

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