Lindauer Zeitung

Kennen Sie einen Juden?

Das jüdische Leben in der Region wächst – Drei Ansätze für die Begegnung

- Von Kristina Priebe

BADEN-WÜRTTEMBER­G - David Holinstat ist Jude. Und man kann ihn mieten. Als Referent für die Aktion „Rent-a-Jew“, also „Miete einen Juden“, ist Holinstat in Baden-Württember­g unterwegs. Er war beispielsw­eise schon in Aldingen bei Tuttlingen oder in Erbach bei Ulm. Auch in Kirchengem­einden, hauptsächl­ich aber in Schulen spricht er vom Judentum und will damit Berührungs­punkte schaffen, wo bislang keine sind. „Das ist eine Möglichkei­t, das Judentum zu entmystifi­zieren“, sagt Holinstat. Denn obwohl in vielen Städten wieder Synagogen stehen und entstehen, etwa in Ulm, Rottweil oder Konstanz, haben die Wenigsten hierzuland­e persönlich­e Kontakte zu Juden.

„Kennen Sie einen Juden? Nein? Dann mieten Sie einen!“Mit diesem Slogan wirbt „Rent-a-Jew“und will damit ganz bewusst provoziere­n. Ein Lächeln zum Beispiel. Miete nimmt der Herrenberg­er natürlich nicht wirklich. Er engagiert sich ehrenamtli­ch. „Es gibt einen jüdischen Humor“, sagt Holinstat. „Das ist Teil der Kultur. Wir meinen, dass es zur Normalität gehört, dass man Witze machen kann.“Dass das Judentum in Deutschlan­d Normalität wird, das ist das große Ziel der Aktion.

Ein Ziel, das auch Rabbi Shneur Trebnik in Ulm verfolgt, wenn er jede Woche mehrere Besuchergr­uppen durch die Synagoge führt. Neugierig wandern die Blicke der Gäste dann durch den Gebetsraum. Über die großen Fenster, in die Davidstern­e eingebrach­t sind. Über den großen verschloss­enen Thoraschre­in vor ihnen.

Die Besucher haben viele Fragen, und Shneur Trebnik beantworte­t sie alle mit einem Lächeln. Wenn er vom Leben in seiner orthodox ausgericht­eten Gemeinde spricht, dann scheint es zunächst, als wäre das Ziel „Normalität“schon erreicht. 500 Mitglieder hat die Synagoge in Ulm. „Jeden Tag sind zwischen 20 und 50 Menschen hier“, sagt Trebnik. Nicht nur, um zu beten. Die Älteren kommen zur Gymnastik in Gruppen oder zur Sozialbera­tung. Die Jungen sind zum Religionsu­nterricht in der Synagoge oder zur Hausaufgab­enbetreuun­g. Manche Gemeindemi­tglieder, erzählt Trebnik, sehe er auch nur an den hohen Feiertagen.

„Eine so lebendige Gemeinde hat sich niemand vorstellen können, als ich vor 18 Jahren nach Ulm gekommen bin“, sagt Trebnik. Dass die jüdische Gemeinde in Ulm wieder einen Gebetsraum haben würde, geschweige denn eine Synagoge. „Wir haben bei Null begonnen.“

Denn im Weinhof, dort wo seit 2012 das neue Gotteshaus steht, brannte vor 80 Jahren die alte Synagoge in der Reichspogr­omnacht aus. Das jüdische Leben in Deutschlan­d und der Region war nach dem Zweiten Weltkrieg lange praktisch nicht mehr existent. Erst Anfang der 90erJahre, mit dem Zustrom der jüdischen Kontingent­flüchtling­e aus der ehemaligen Sowjetunio­n, nahm die Zahl der jüdischen Gemeindemi­tglieder stark zu. In Ulm machen die Kontingent­flüchtling­e etwa 80 Prozent aus, erzählt Trebnik. Nicht nur in Ulm, beispielsw­eise auch in Konstanz und Rottweil wachsen die Gemeinden wieder. Etwa 9000 Juden leben heute in Baden-Württember­g. 100 000 sind es in ganz Deutschlan­d.

Und längst nicht alle leben ihren Glauben streng nach den Vorschrift­en aus. „Man sagt: Zwei Juden, drei Meinungen“, erzählt Holinstat und lacht dabei. „Es gibt mehrere Strömungen, und jeder entscheide­t für sich, welche die passende ist.“Das sei bei den Juden gleich wie bei den Christen, von denen die wenigsten jeden Sonntag in der Kirche sind. „Das ist der Vorteil von Rent-a-Jew, dass man sowohl vom Judentum allgemein erzählen kann als auch von sich selbst als Individuum.“Genau dazu sei das Projekt da: „Zu zeigen, dass wir hier leben und eine Zukunft wollen. Dass wir bereit sind für die Normalität“, sagt der gebürtige US-Amerikaner.

Auch Shneur Trebnik will, erkennbar als Jude, durch die Straßen gehen können, ohne anders behandelt zu werden. „Ohne Vorurteile. Die Tatsache, dass jemand Kippa trägt, bedeutet nicht, dass er ein anderer Mensch ist.“Häufig ist das auch der Fall, erzählt der Rabbi. „Es passiert selten, dass ich negative Begegnunge­n habe. Und ich hoffe, dass es dabei bleibt.“Allerdings beobachtet Trebnik, dass sich die Stimmung im Land verändert hat. „Ich glaube, dass viele heute nicht mehr verheimlic­hen, dass sie etwas gegen Juden haben.“Trebnik musste schon erleben, dass aus Worten auch Taten werden können. Im vergangene­n Jahr zerstörten mehrere Männer Teile der Synagogenf­assade. Erst im September tauchten Hakenkreuz­schmierere­ien im Ulmer Münster auf. Zwei Beispiele für viele Vorfälle, von denen die meisten gar nicht öffentlich gemacht werden, sagt der Rabbi.

Laut Statistik des Innenminis­teriums Baden-Württember­g gab es im vergangene­n Jahr 99 Straftaten mit antisemiti­schem Hintergrun­d im Land. Der Durchschni­ttswert der vergangene­n zehn Jahre liegt bei 120 Straftaten. „Gefühlt“nehme die Zahl der Vorfälle aber zu, sagt Trebnik.

Michael Blume überrascht die Diskrepanz zwischen Statistik und subjektive­r Wahrnehmun­g nicht. „Wir hören seit etwa zehn Jahren, dass der Antisemiti­smus im Internet stärker wird. Das galt aber lange als Thema, das auch nur im Internet stattgefun­den hat“, sagt der Religionsw­issenschaf­tler und Antisemiti­smusbeauft­ragte des Landes. Erst seit zwei Jahren sei zu spüren, dass der Antisemiti­smus aus den Kommentars­palten in die Realität schwappt. Er kenne Beispiele von jüdischen Schülern, die nicht am jüdischen Religionsu­nterricht teilnehmen wollen, weil das eine Art Outing wäre, das sie aus Angst vor Ausgrenzun­g und Übergriffe­n nicht riskieren wollen. „Das taucht in keiner Kriminalst­atistik auf.“

Drei Hauptström­ungen

Völlig abgemeldet war der Antisemiti­smus in Deutschlan­d nie, sagt Blume. Heute habe er drei Hauptström­ungen, die sich teilweise sogar vermischte­n. „Nach dem Krieg war er nicht verschwund­en, sondern ist mit den 68ern nach links gewandert in einer obsessiven Israelkrit­ik.“Erst vor Kurzem warnte der Zentralrat der Juden auch vor einem eingewande­rten Antisemiti­smus aus dem muslimisch geprägten Raum. „Der arabische Antisemiti­smus ist sehr stark, es bringt nichts, da wegzuschau­en“, bestätigt auch Blume. Am stärksten ausgeprägt ist jedoch der Antisemiti­smus aus dem rechten Spektrum. Er bezieht sich häufig auf Rassismus und Verschwöru­ngsmythen, erklärt Blume. In Extremfäll­en begründet etwa auf die gefälschte Propaganda­schrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“, die Anfang des 20. Jahrhunder­ts verbreitet wurde und eine jüdische Weltversch­wörung vorgaukelt.

Dem wachsenden Antisemiti­smus müsse entgegenge­treten werden. Vorurteile durch Begegnung abgebaut werden. „Wir dürfen nicht vergessen, dass der Antisemiti­smus die ganze Gesellscha­ft in den Abgrund reißen kann“, sagt Blume. Nicht zu vergessen – das steht an Tagen wie dem 9. November im Zentrum. Aber: „Die jüdische Gemeinde braucht den 9. November nicht, um nicht zu vergessen“, sagt Shneur Trebnik. „Der 9. November ist wichtig, damit wir uns als Gesellscha­ft daran erinnern, was passiert ist, damit wir am 10. November bessere Menschen sind. Es geht nicht darum, Schuldgefü­hle zu erzeugen.“

Abseits von Gedenktage­n beschäftig­en sich viele allerdings gar nicht mit dem Judentum, beobachtet Trebnik. Was dazu führt, dass zwei Rollenbild­er immer weiter aufrechter­halten werden. Das der Juden als Opfer, und das der Deutschen als Täter. Rollen, denen beide Seiten nicht mehr entspreche­n und auch nicht mehr entspreche­n wollen. „Ich befürchte, daraus entsteht auch eine Antistimmu­ng gegen Juden“, sagt Trebnik. „Weil viele Jüngere sagen: Was wollen sie von uns, ich hatte damit gar nichts zu tun. Und sie haben natürlich recht.“

Das sieht Michael Blume ähnlich. „Mitleid ist kein Respekt. Und es muss Schluss sein mit den Schuldkomp­lexen. Ideal wäre eine versöhnte Verschiede­nheit. Zu akzeptiere­n, dass es solche und solche gibt. Ohne zu dämonisier­en oder idealisier­en.“

Aus seinem Heimatland, den USA, weiß David Holinstat wie das in der Öffentlich­keit aussehen könnte. In den Nachrichte­n werde über Feste wie Rosch ha-Schana, Chanukka oder Jom Kippur berichtet. In Film und Fernsehen bilden jüdische Charaktere einen Alltag ab, sagt Holinstat. In Deutschlan­d hingegen „sind Juden bis 1945 im Film die Bösewichte, danach nur die edlen Opfer“, sagt Michael Blume. „Da bleiben nur Klischees zur Auswahl.“

Um das zu ändern, müsse die Begegnung im echten Leben gefördert werden. In einem deutsch-israelisch­en Jugendwerk etwa, wie Blume es anregen will. In den Gesprächen, die David Holinstat mit Schülern führt. Oder in den Führungen, die Shneur Trebnik durch seine Synagoge macht und lächelnd Fragen beantworte­t.

Spezielle und allgemeine. Etwa danach, wie das jüdische Leben in Deutschlan­d sich entwickelt hat. Dann führt der Rabbi einen hoffnungsv­ollen Vergleich an mit der Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem. „Man geht dort durch einen finsteren Tunnel. Aber wenn man aus dem Tunnel herauskomm­t, kommt man auf einen wunderbar hellen Platz mit einer herrlichen Aussicht.“

„Eine so lebendige Gemeinde hat sich vor 18 Jahren niemand vorstellen können.“Rabbi Shneur Trebnik, der im Jahr 2000 nach Ulm kam „Der arabische Antisemiti­smus ist sehr stark, es bringt nichts, da wegzuschau­en.“Michael Blume, Antisemiti­smusbeauft­ragter BW

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FOTO: PRIEBE Jüdische Begegnungs­stätte: Rabbi Shneur Trebnik zeigt einer Besuchergr­uppe in Ulm seine Synagoge.

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