Kennen Sie einen Juden?
Das jüdische Leben in der Region wächst – Drei Ansätze für die Begegnung
BADEN-WÜRTTEMBERG - David Holinstat ist Jude. Und man kann ihn mieten. Als Referent für die Aktion „Rent-a-Jew“, also „Miete einen Juden“, ist Holinstat in Baden-Württemberg unterwegs. Er war beispielsweise schon in Aldingen bei Tuttlingen oder in Erbach bei Ulm. Auch in Kirchengemeinden, hauptsächlich aber in Schulen spricht er vom Judentum und will damit Berührungspunkte schaffen, wo bislang keine sind. „Das ist eine Möglichkeit, das Judentum zu entmystifizieren“, sagt Holinstat. Denn obwohl in vielen Städten wieder Synagogen stehen und entstehen, etwa in Ulm, Rottweil oder Konstanz, haben die Wenigsten hierzulande persönliche Kontakte zu Juden.
„Kennen Sie einen Juden? Nein? Dann mieten Sie einen!“Mit diesem Slogan wirbt „Rent-a-Jew“und will damit ganz bewusst provozieren. Ein Lächeln zum Beispiel. Miete nimmt der Herrenberger natürlich nicht wirklich. Er engagiert sich ehrenamtlich. „Es gibt einen jüdischen Humor“, sagt Holinstat. „Das ist Teil der Kultur. Wir meinen, dass es zur Normalität gehört, dass man Witze machen kann.“Dass das Judentum in Deutschland Normalität wird, das ist das große Ziel der Aktion.
Ein Ziel, das auch Rabbi Shneur Trebnik in Ulm verfolgt, wenn er jede Woche mehrere Besuchergruppen durch die Synagoge führt. Neugierig wandern die Blicke der Gäste dann durch den Gebetsraum. Über die großen Fenster, in die Davidsterne eingebracht sind. Über den großen verschlossenen Thoraschrein vor ihnen.
Die Besucher haben viele Fragen, und Shneur Trebnik beantwortet sie alle mit einem Lächeln. Wenn er vom Leben in seiner orthodox ausgerichteten Gemeinde spricht, dann scheint es zunächst, als wäre das Ziel „Normalität“schon erreicht. 500 Mitglieder hat die Synagoge in Ulm. „Jeden Tag sind zwischen 20 und 50 Menschen hier“, sagt Trebnik. Nicht nur, um zu beten. Die Älteren kommen zur Gymnastik in Gruppen oder zur Sozialberatung. Die Jungen sind zum Religionsunterricht in der Synagoge oder zur Hausaufgabenbetreuung. Manche Gemeindemitglieder, erzählt Trebnik, sehe er auch nur an den hohen Feiertagen.
„Eine so lebendige Gemeinde hat sich niemand vorstellen können, als ich vor 18 Jahren nach Ulm gekommen bin“, sagt Trebnik. Dass die jüdische Gemeinde in Ulm wieder einen Gebetsraum haben würde, geschweige denn eine Synagoge. „Wir haben bei Null begonnen.“
Denn im Weinhof, dort wo seit 2012 das neue Gotteshaus steht, brannte vor 80 Jahren die alte Synagoge in der Reichspogromnacht aus. Das jüdische Leben in Deutschland und der Region war nach dem Zweiten Weltkrieg lange praktisch nicht mehr existent. Erst Anfang der 90erJahre, mit dem Zustrom der jüdischen Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion, nahm die Zahl der jüdischen Gemeindemitglieder stark zu. In Ulm machen die Kontingentflüchtlinge etwa 80 Prozent aus, erzählt Trebnik. Nicht nur in Ulm, beispielsweise auch in Konstanz und Rottweil wachsen die Gemeinden wieder. Etwa 9000 Juden leben heute in Baden-Württemberg. 100 000 sind es in ganz Deutschland.
Und längst nicht alle leben ihren Glauben streng nach den Vorschriften aus. „Man sagt: Zwei Juden, drei Meinungen“, erzählt Holinstat und lacht dabei. „Es gibt mehrere Strömungen, und jeder entscheidet für sich, welche die passende ist.“Das sei bei den Juden gleich wie bei den Christen, von denen die wenigsten jeden Sonntag in der Kirche sind. „Das ist der Vorteil von Rent-a-Jew, dass man sowohl vom Judentum allgemein erzählen kann als auch von sich selbst als Individuum.“Genau dazu sei das Projekt da: „Zu zeigen, dass wir hier leben und eine Zukunft wollen. Dass wir bereit sind für die Normalität“, sagt der gebürtige US-Amerikaner.
Auch Shneur Trebnik will, erkennbar als Jude, durch die Straßen gehen können, ohne anders behandelt zu werden. „Ohne Vorurteile. Die Tatsache, dass jemand Kippa trägt, bedeutet nicht, dass er ein anderer Mensch ist.“Häufig ist das auch der Fall, erzählt der Rabbi. „Es passiert selten, dass ich negative Begegnungen habe. Und ich hoffe, dass es dabei bleibt.“Allerdings beobachtet Trebnik, dass sich die Stimmung im Land verändert hat. „Ich glaube, dass viele heute nicht mehr verheimlichen, dass sie etwas gegen Juden haben.“Trebnik musste schon erleben, dass aus Worten auch Taten werden können. Im vergangenen Jahr zerstörten mehrere Männer Teile der Synagogenfassade. Erst im September tauchten Hakenkreuzschmierereien im Ulmer Münster auf. Zwei Beispiele für viele Vorfälle, von denen die meisten gar nicht öffentlich gemacht werden, sagt der Rabbi.
Laut Statistik des Innenministeriums Baden-Württemberg gab es im vergangenen Jahr 99 Straftaten mit antisemitischem Hintergrund im Land. Der Durchschnittswert der vergangenen zehn Jahre liegt bei 120 Straftaten. „Gefühlt“nehme die Zahl der Vorfälle aber zu, sagt Trebnik.
Michael Blume überrascht die Diskrepanz zwischen Statistik und subjektiver Wahrnehmung nicht. „Wir hören seit etwa zehn Jahren, dass der Antisemitismus im Internet stärker wird. Das galt aber lange als Thema, das auch nur im Internet stattgefunden hat“, sagt der Religionswissenschaftler und Antisemitismusbeauftragte des Landes. Erst seit zwei Jahren sei zu spüren, dass der Antisemitismus aus den Kommentarspalten in die Realität schwappt. Er kenne Beispiele von jüdischen Schülern, die nicht am jüdischen Religionsunterricht teilnehmen wollen, weil das eine Art Outing wäre, das sie aus Angst vor Ausgrenzung und Übergriffen nicht riskieren wollen. „Das taucht in keiner Kriminalstatistik auf.“
Drei Hauptströmungen
Völlig abgemeldet war der Antisemitismus in Deutschland nie, sagt Blume. Heute habe er drei Hauptströmungen, die sich teilweise sogar vermischten. „Nach dem Krieg war er nicht verschwunden, sondern ist mit den 68ern nach links gewandert in einer obsessiven Israelkritik.“Erst vor Kurzem warnte der Zentralrat der Juden auch vor einem eingewanderten Antisemitismus aus dem muslimisch geprägten Raum. „Der arabische Antisemitismus ist sehr stark, es bringt nichts, da wegzuschauen“, bestätigt auch Blume. Am stärksten ausgeprägt ist jedoch der Antisemitismus aus dem rechten Spektrum. Er bezieht sich häufig auf Rassismus und Verschwörungsmythen, erklärt Blume. In Extremfällen begründet etwa auf die gefälschte Propagandaschrift „Die Protokolle der Weisen von Zion“, die Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet wurde und eine jüdische Weltverschwörung vorgaukelt.
Dem wachsenden Antisemitismus müsse entgegengetreten werden. Vorurteile durch Begegnung abgebaut werden. „Wir dürfen nicht vergessen, dass der Antisemitismus die ganze Gesellschaft in den Abgrund reißen kann“, sagt Blume. Nicht zu vergessen – das steht an Tagen wie dem 9. November im Zentrum. Aber: „Die jüdische Gemeinde braucht den 9. November nicht, um nicht zu vergessen“, sagt Shneur Trebnik. „Der 9. November ist wichtig, damit wir uns als Gesellschaft daran erinnern, was passiert ist, damit wir am 10. November bessere Menschen sind. Es geht nicht darum, Schuldgefühle zu erzeugen.“
Abseits von Gedenktagen beschäftigen sich viele allerdings gar nicht mit dem Judentum, beobachtet Trebnik. Was dazu führt, dass zwei Rollenbilder immer weiter aufrechterhalten werden. Das der Juden als Opfer, und das der Deutschen als Täter. Rollen, denen beide Seiten nicht mehr entsprechen und auch nicht mehr entsprechen wollen. „Ich befürchte, daraus entsteht auch eine Antistimmung gegen Juden“, sagt Trebnik. „Weil viele Jüngere sagen: Was wollen sie von uns, ich hatte damit gar nichts zu tun. Und sie haben natürlich recht.“
Das sieht Michael Blume ähnlich. „Mitleid ist kein Respekt. Und es muss Schluss sein mit den Schuldkomplexen. Ideal wäre eine versöhnte Verschiedenheit. Zu akzeptieren, dass es solche und solche gibt. Ohne zu dämonisieren oder idealisieren.“
Aus seinem Heimatland, den USA, weiß David Holinstat wie das in der Öffentlichkeit aussehen könnte. In den Nachrichten werde über Feste wie Rosch ha-Schana, Chanukka oder Jom Kippur berichtet. In Film und Fernsehen bilden jüdische Charaktere einen Alltag ab, sagt Holinstat. In Deutschland hingegen „sind Juden bis 1945 im Film die Bösewichte, danach nur die edlen Opfer“, sagt Michael Blume. „Da bleiben nur Klischees zur Auswahl.“
Um das zu ändern, müsse die Begegnung im echten Leben gefördert werden. In einem deutsch-israelischen Jugendwerk etwa, wie Blume es anregen will. In den Gesprächen, die David Holinstat mit Schülern führt. Oder in den Führungen, die Shneur Trebnik durch seine Synagoge macht und lächelnd Fragen beantwortet.
Spezielle und allgemeine. Etwa danach, wie das jüdische Leben in Deutschland sich entwickelt hat. Dann führt der Rabbi einen hoffnungsvollen Vergleich an mit der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. „Man geht dort durch einen finsteren Tunnel. Aber wenn man aus dem Tunnel herauskommt, kommt man auf einen wunderbar hellen Platz mit einer herrlichen Aussicht.“
„Eine so lebendige Gemeinde hat sich vor 18 Jahren niemand vorstellen können.“Rabbi Shneur Trebnik, der im Jahr 2000 nach Ulm kam „Der arabische Antisemitismus ist sehr stark, es bringt nichts, da wegzuschauen.“Michael Blume, Antisemitismusbeauftragter BW