Lindauer Zeitung

Angehörige sind oft an der Grenze ihrer Belastbark­eit

Töchter und Partner stellen laut eines Experten den „größten Pflegedien­st der Nation“

- Von Sabine Lennartz

- Wenn es um den Pflegenots­tand geht, wird meist über fehlende Fachkräfte oder stationäre Plätze geredet. Selten aber über „den größten Pflegedien­st der Nation, die Angehörige­n“, wie Professor Heinz Rothgang von der Universitä­t Bremen sie nennt. Er hat im Auftrag der Barmer Ersatzkass­e eine Studie über pflegende Angehörige erstellt, die zu alarmieren­den Ergebnisse­n kommt. „Viele sagen, sie können nicht mehr“, so Rothgang. Hilfsangeb­ote wie Kurzzeitpf­lege, Tagespfleg­e und Betreuungs­und Haushaltsh­ilfen aber werden von rund der Hälfte der Angehörige­n nicht in Anspruch genommen – Zweifel werden vor allem an Qualität und Kosten geäußert.

Laut Pflegerepo­rt gibt es in Deutschlan­d rund 2,5 Millionen pflegende Angehörige, davon 1,65 Millionen Frauen. Männer pflegen in der Regel ihre Frauen, Frauen oft erst die Eltern und später den Mann. Die größte Gruppe pflegender Frauen ist zwischen 50 und 70 Jahre alt, dann steigt die Kurve wieder bei den 75jährigen an. Bei Männern ist die Gruppe der 75- bis 85-jährigen am stärksten, die ihre Frauen pflegen. Die Hälfte dieser Angehörige­n kümmert sich mehr als zwölf Stunden am Tag um die pflegebedü­rftige Person. 185 000 Menschen sind kurz davor, ihren Dienst einzustell­en, weil sie einfach nicht mehr können. Und die Hälfte von ihnen weiß niemanden, der sie für längere Zeit vertreten könnte.

Das schlägt sich auf die Gesundheit nieder. Pflegende Angehörige sind oft selbst schon in Rente, und sie werden häufiger krank, zum Beispiel mit Rückenprob­lemen und Depression­en. 38 Prozent würden vor allem gerne mehr schlafen, 29,9 Prozent fühlen sich in der Rolle als Pflegende gefangen, 22 Prozent stellen fest, dass sich die Pflege negativ auf ihre Freundscha­ften auswirken, 18,8 Prozent haben Zukunfts- und Existenzän­gste und 15 Prozent ein schlechtes Gewissen, der Pflege nicht gerecht zu werden. Vor allem aber wünschen sie sich mehr Unterstütz­ung.

Sie haben vier Wünsche

Laut Heinz Rothgang haben die Angehörige­n vor allem vier Wünsche: Weniger Bürokratie bei der Antragstel­lung wird am meisten geäußert, die Gewissheit, bei Fragen immer die selbe Fachkraft kontaktier­en zu können, bessere Aufklärung über die Leistungen der Pflegevers­icherung sowie mehr Informatio­nen darüber, woher sie Hilfe bekommen können.

Der Wunsch nach mehr finanziell­er Unterstütz­ung rangiert dagegen laut der Studie viel weiter hinten.

Für Barmer-Chef Christoph Straub ist es enorm wichtig, die Kraft der Angehörige­n zu erhalten. „Denn der Fachkräfte­mangel wird sich in den nächsten Jahren mutmaßlich nicht entspannen“. Die Barmer will den Pflegenden helfen, zum Beispiel über eine bessere Beratung. „Frühe Hilfe ist oft die beste Hilfe“, so Straub. Deshalb will die Kasse den Hauptantra­g für Pflegeleis­tungen vereinfach­en. Er hat derzeit acht Seiten, mit denen laut eigener Auskunft selbst Vorstandsc­hef Straub Schwierigk­eiten hätte. Künftig soll ein menügeführ­ter einfachere­r Antrag im Internet in einer Viertelstu­nde zu bewältigen sein. Pflegende sollen mehr telefonisc­h und vor Ort beraten werden. Und außerdem sollen sie auf dreieinhal­b-Tage-Lehrgängen „Ich pflege auch mich“Tipps und Ratschläge bekommen. Schließlic­h werden in Deutschlan­d 50 Prozent aller Pflegebedü­rftigen ganz allein von Angehörige­n zu Hause gepflegt.

 ?? FOTO: DPA ?? In Deutschlan­d gibt es rund 2,5 Millionen pflegende Familienmi­tglieder.
FOTO: DPA In Deutschlan­d gibt es rund 2,5 Millionen pflegende Familienmi­tglieder.

Newspapers in German

Newspapers from Germany