Bei aller Brisanz zählt das Spielerische
Von der Vielfalt des Menschen: Theater dieheroldfliri.at bringt aktuelles Stück „DI_VER*SE“auf die Hinterbühne im Stadttheater
LINDAU (bc) - Frau oder Mann, Mann oder Frau oder beides in einer Person? Diesem ebenso heiklen wie brisantem Gesellschaftsthema widmet sich das neue Theaterstück „DI_VER*SE“von Regisseurin Barbara Herold in einer Produktion von dieheroldfliri.at.
Das dreiköpfige Ensemble mit Maria Fliri, Helga Pedross und Peter Bocek gastierte am Montagabend auf der Hinterbühne im Stadttheater. Ihr Auftritt vermittelte dem voll besetzten Zuschauerraum, was es heißt, sich hautnah mit der Vielfalt „Mensch“auseinanderzusetzen.
Statt von oben herunter mit vorgegebener Distanz zum Publikum hat sich das Ensemble den intimen und ebenerdigen Spielort der Hinterbühne gewählt. Hier befinden sich die Akteure auf Augenhöhe mit den Zuschauern, können ihnen in den vorderen Reihen ganz nah kommen und Schwellenängste abbauen. Das hat Barbara Herold mit ihrer aktuellen Inszenierung als Koproduktion mit Kosmos-Theater Wien und Theater Kempten erreicht. Eine Unmittelbarkeit und Direktheit zum Gegenüber und trotz aller Brisanz das Spielerische in den Vordergrund zu rücken.
Das macht allein der Auftakt deutlich in dem wandelbaren Bühnenbild von Caro Stark, das aus langen, von oben herabhängenden Stoffbahnen besteht. Diese geraten zu Projektionsflächen von Videoporträts und dienen den Darstellern als schützende Körperhüllen. Die Attrappe eines Babys halten sie im Arm und schreien „Hurra!“. Nur, was hat es zwischen seinen Beinen? Nichts Eindeutiges, weder Männlein noch Weiblein. Was ist es dann? Ein Zwitter, ein Es. Eine aufmüpfige Handpuppe im MuppetOutfit bringt es auf den Punkt, was das Geschlecht angeht: „Mich gibt’s nicht. Ich bin ein Gender-Sternchen.“
Um Abhilfe zu schaffen, sprich, um die erforderliche Zuweisung an Mann oder Frau zu erzwingen, zückt der Arzt das Messer. Was sich hier noch im Bereich Komik abspielt, gerät wenige Minuten später zu blankem Ernst. Wenn die drei Protagonisten beginnen, die Geschichten der mit Betroffenen geführten Interviews zu erzählen. So authentisch, als wären sie es selbst. Dabei tischen sie alles auf. Einer, der sich schon als Kind in seinem Männerkörper nicht wohl fühlt und zeitlebens nach Auswegen und Fluchten sucht, Frau zu sein. Eine, der mit zwölf Jahren ein Kinnbart wächst, den sie immer aufs Neue auszupft und rasiert, um der Norm zu entsprechen. Dann aber den Kampf aufgibt und heiratet – eine Frau. Und eine, deren Geschlecht operativ hingebogen wurde, und die sich jetzt als „Alien“fühlt.
Gemeinsam ist ihnen, dass sie sich von Anfang an „anders“als die anderen vorkommen. Gleich, ob körperlich oder sozial bedingt. Ob als Transgender oder intersexuell. Es ist ein Lehrstück, das nicht belehren, sondern sensibilisieren will. Dass Offenheit einfordert und sei sie noch so ungewohnt. In allen Fällen handelt es sich um Menschen und um einen unverstellten Blick auf deren geschlechtliche Vielfalt.
Mit BH und Stöckelschuhen
Humorvoll geht es zu, wenn sie sich die BHs umbinden und in Stöckelschuhen über die Bühne stolzieren. Sie eine Spoken-Word-Performance auf Testosteron, Hodensack, Gebärmutter, Penis und Vagina riskieren, nur um zu erkennen, dass die Hormon-Therapie auch keine Abhilfe schafft. „Klappt’s?“– nein. Jeder neue Anlauf geht ins Leere, bis hin zu aussichtslosen Psychotherapien und schmerzhaften geschlechtsangleichenden Operationen. Wenn im Falle von Transmännern der Penis zum dauersteifen Knochen mit Zipfel gerät – zum Penoid „für das eigene Selbstbild“. Hierzu hat Caro Stark die Akteure eindeutig männlich ausstaffiert, ohne aus ihnen eine Lachnummer zu generieren.
Vielmehr bringen sie den Ernst ihrer Lage zum Ausdruck. Mit Sätzen wie „Ich bin androgyn und mache das nicht zum Spaß“. Es gibt keine richtigen und falschen Körper. Es gibt Körper. Umso mehr sich während der rund 80 Minuten Spieldauer zeigt, wie wandelbar Mensch sein kann, umso näher und anverwandter fühlt man sich den drei Schauspielern. Sie trauen sich, sich zu outen. Und das befreit von stereotypen Sichtweisen.