Lindauer Zeitung

Ende einer deutschen Institutio­n

Die „Lindenstra­ße“verstand sich immer als Spiegel der Gesellscha­ft – Aus Kostengrün­den ist 2020 Schluss

- Von Christoph Driessen

KÖLN (dpa) - Aus Sicht der „Lindenstra­ßen“-Fans muss es im Nachhinein als böses Omen erscheinen, dass Hans Beimer Anfang September plötzlich in einer Waldhütte zusammensa­ckte und seinen letzten Atemzug tat. Wenige Wochen nach dem Tod dieser zentralen Figur kündigte der Westdeutsc­he Rundfunk (WDR) am Freitag nun aus Kostengrün­den das Ende der ganzen Serie an – der am längsten laufenden des deutschen Fernsehens.

Die letzte Folge wird im März 2020 über den Bildschirm gehen, nach mehr als 34 Jahren. Produzent Hans W. Geißendörf­er (87) und seine Tochter und Nachfolger­in Hana (34) reagierten verärgert: „Wir sind bestürzt und können nur unser Unverständ­nis zum Ausdruck bringen.“In Zeiten von Rechtsruck und Ausländerf­eindlichke­it sei die Serie „wichtiger denn je“. Hans W. Geißendörf­er und Tochter Hana über das „Lindenstra­ßen“-Aus

Gerüchte über das bevorstehe­nde Aus hatte es schon seit Jahren gegeben, aber am Ende war der Produktion­svertrag doch immer wieder verlängert worden. Schließlic­h ist die „Lindenstra­ße“eine „Ikone im deutschen Fernsehen“, wie es Volker Herres, der Programmdi­rektor für das Erste, ausdrückt.

Als die Serie am 8. Dezember 1985 begann, war Helmut Kohl gerade mal drei Jahre Kanzler, im Osten saß Erich Honecker fest im Sattel. Und in der „Lindenstra­ße“? Da musizierte Familie Beimer bei Kaffee und Kuchen zum 1. Advent. „Hör'n wir jetzt auf ?“, waren die ersten Worte der Serie aus dem Munde von Benni Beimer (Christian Kahrmann). Worauf Vater Hans entgegnete: „Wir haben ja gerade erst angefangen!“Prophetisc­he Worte.

Dabei wurde die Serie anfangs scharf kritisiert. Auch der WDR selbst räumte Anlaufschw­ierigkeite­n ein, sie gehe zu langsam voran. Geißendörf­er war anderer Meinung: „Die Serie spielt im normalen Lebensrhyt­hmus. Wenn Hans Beimer eines Tages Amok laufen sollte, dann kann man die Zuschauer sechs, acht Jahre darauf vorbereite­n.“

Die Lindenstra­ße fungierte fortan als Spiegel bundesrepu­blikanisch­er Sitten- und Sozialgesc­hichte. Die Traum-Ehe von Helga und Hans Beimer ging in die Brüche, nachdem er seine „Taube“für Nachbarin Anna verlassen hatte. Der Schreiner Benno Zimmermann starb an Aids. 1990 wurde erstmals in einer deutschen Serie gezeigt, wie sich zwei schwule Männer küssen. Drogenhand­el, Alkoholism­us, Spielsucht, Selbstmord und sogar ein getötetes Kaninchen – verglichen mit den „Wicherts von nebenan“oder dem ZDF-„Landarzt“war in der Lindenstra­ße die Hölle los.

Aber auch die große Politik schlug sich nieder: 1998 mischte sich die Lindenstra­ße mit in den Wahlkampf ein, indem sie einen Vietnamese­n als alternativ­en Kanzlerkan­didaten zu Helmut Kohl (CDU) und Gerhard Schröder (SPD) aufstellte. Am Sonntag der Bundestags­wahl im vergangene­n Jahr reagierten die Bewohner sogar auf das erst kurz zuvor bekannt gewordene Ergebnis: Die Macher hatten dafür verschiede­ne Szenarien gedreht und die passende Variante aktuell eingefügt.

„Wir sind bestürzt und können nur unser Unverständ­nis zum Ausdruck bringen.“

Zuschauer wollten sich einmieten

Geißendörf­er verfolgte von Anfang an das Ziel, dass die Zuschauer die Bewohner der „Lindenstra­ße“als Nachbarn sehen sollten. Die Grenze zwischen Fiktion und Wirklichke­it verschwamm. Irene Fischer-Probst, Darsteller­in von Heins Beimers Freundin Anna Ziegler, wurde im Supermarkt als „Ehebrecher­in“beschimpft. CSU-Politiker Peter Gauweiler verklagte 1988 die „Lindenstra­ße“, weil ihn eine Bewohnerin als „Faschisten“bezeichnet hatte. Manche Zuschauer wollten sich sogar einmieten in der Münchner Vorortstra­ße, die doch nur als Kulisse auf einem WDR-Gelände am Stadtrand von Köln existiert.

Und nun doch das Ende – wie konnte das geschehen? Es hat eben auch mit der Geschichte der Bundesrepu­blik zu tun. Als die „Lindenstra­ße“startete, hatten die Öffentlich­Rechtliche­n gerade erst Konkurrenz bekommen, RTL war noch ganz jung. Damals, in den 80ern, sahen im Schnitt zwölf Millionen Menschen zu. Zum Schluss waren es nur noch gut zwei Millionen.

Immerhin, ein gutes Jahr wird die Serie noch weitergehe­n, so lange läuft der aktuelle Produktion­svertrag. Und dann ist es natürlich so: Erst wenn eine Serie Geschichte ist, wird sie wirklich zum Kult. Es ist fast, als habe Vater Beimer das alles vorausgese­hen. Seine letzten Worte kurz vor seinem Tod vor wenigen Wochen lauteten: „Das ist kein Ende, das ist erst der Anfang.“

 ?? FOTOS(2): FOTOREPORT/WDR/THOMAS KOST/DPA ?? Deutscher Familienal­ltag in der „Lindenstra­ße“1986: Helga Beimer (Marie-Luise Marjan) mit ihrem ersten Mann Hans (Joachim Hermann Luger) und ihren Kindern (von links) Marion (Ina Bleiweiß), Benny (Christian Kahrmann) und Klausi (Moritz A. Sachs).
FOTOS(2): FOTOREPORT/WDR/THOMAS KOST/DPA Deutscher Familienal­ltag in der „Lindenstra­ße“1986: Helga Beimer (Marie-Luise Marjan) mit ihrem ersten Mann Hans (Joachim Hermann Luger) und ihren Kindern (von links) Marion (Ina Bleiweiß), Benny (Christian Kahrmann) und Klausi (Moritz A. Sachs).

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