Fehlen Kinderärzte? Ja. Gibt es mehr? Nein!
Interessenskonflikte zwischen Krankenkassen und Verband und führen zu Aufnahmestopp in Allgäuer Praxen
KEMPTEN/OBERALLGÄU (jan) - In Kempten und im Oberallgäu kommen jeweils etwa 100 Babys mehr auf die Welt als vor zehn Jahren. Mehr Kinderärzte gibt es allerdings nicht und das führt dazu, dass sich die Situation in den Praxen „seit Jahren immer mehr zuspitzt“, sagt Dr. Thomas Potthast, selbst Kinderarzt und Vorsitzender des ärztlichen Kreisverbandes Kempten. Das Problem: 1992 wurde die Zahl der Zulassungen für Kinderärzte in der Region auf 14 festgeschrieben und seitdem nicht mehr angepasst. 2019 wird diese Niederlassungssperre zwar möglicherweise aufgehoben. Da dies aber bundesweit gilt, fürchten medizinische Verbandsvertreter, dass die zusätzlichen Kinderärzte Praxen nicht auf dem Land, sondern in den Ballungszentren eröffnen.
„Oberallgäuer und Kemptener Kinderarztpraxen weigern sich zunehmend, Kinder als Patienten neu aufzunehmen und zu behandeln.“Mit dieser Aussage sorgte Landrat Anton Klotz kürzlich für eine breite öffentliche Debatte. Die Hintergründe sind vielschichtig, sagt Dr. Potthast und verweist auf 20 Jahre Erfahrung: „Es werden immer mehr Patienten und die müssen wir immer intensiver betreuen.“
Zwischen 600 und 700 Kinder werden jeweils in Kempten und im Oberallgäu pro Jahr geboren. Hinzu kamen zuletzt viele kinderreiche Flüchtlingsfamilien, sagt der Arzt.
Die Zahl der Vorsorgeuntersuchungen wurde erhöht, gleichzeitig wurden die Tests aufwendiger. Neben der körperlichen Untersuchung wird die geistige, soziale und emotionale Entwicklung überprüft.
Weniger Infektionsbehandlungen, dafür ungleich mehr „Sozialmedizin“beispielsweise aufgrund von Schulangst treiben nach Worten des Arztes den Zeitaufwand bei Behandlungen in die Höhe.
Ein sogenannter Bedarfsplan, in dem bundesweit die Höchstzahl von Medizinern sämtlicher Fachrichtungen in einzelnen Regionen festgezurrt ist, wurde trotzdem seit mehr als 25 Jahren nicht angepasst. Die 14 Sitze teilen sich 22 Ärzte. Maßstab für diesen Plan ist ausschließlich die Einwohnerzahl eines Gebiets. Die Geburtenentwicklung spielt bei Kinderärzten keine Rolle. Beispielsweise die emporgeschnellten Fallzahlen psychischer Erkrankungen bei Psychiatern auch nicht.
Die Praxissitze vergibt die „Kassenärztliche Vereinigung“. Dr. Jakob Berger ist Vorstandsmitglied in Schwaben und sagt: „Ich sehe Aufstockungsbedarf bei den Kinderärzten.“Noch im November kommen auch Vertreter der Ärzte, Krankenkassen, Städte und Landkreise zu einer bayerischen Ausschusssitzung zusammen und diese könnten „Sonderzulassungen“genehmigen. Doch da seiner Überzeugung nach die Krankenkassen den Finanztopf für die Vergütung nicht vergrößern, glaubt er, dass daraus nichts wird. Denn in diesem Fall würde der einzelne Mediziner weniger verdienen.
„Ja“, sagt Günther Erdtl als Regional-Direktor der AOK-Krankenkasse zur Frage, ob es mehr Kinderärzte in Kempten und dem Oberallgäu geben muss. Konsequenzen habe diese Einschätzung aber nicht, da die Kasse an den Bedarfsplan gebunden sei.
In Memmingen gibt es ebenfalls zu wenig Kinderärzte. Um abgewiesenen Eltern zu helfen, hat die „Kassenärztliche Vereinigung“bei allen Hausärzten nachgefragt, wer aufgrund seiner Kenntnisse Vorsorgeuntersuchungen bei Kindern übernehmen kann. Einige haben sich gemeldet, sagt Dr. Berger.
In Kempten gab es das noch nicht, sagt Dr. Potthast. Er schlägt ein Treffen mit Ärzten, Krankenkassen, dem Kemptener Oberbürgermeister und dem Oberallgäuer Landrat vor, bei dem „der Bedarf vor Ort“besprochen wird. Aus seiner Sicht würde es die Situation bereits verbessern, wenn Spezialisten wie Kinderrheumatologen oder Kinderkardiologen rechnerisch mit einem ganzen Zulassungssitz bedacht werden und nicht wie aktuell nur mit einem halben. Von einer Abschaffung der Niederlassungssperre hält er nichts. Auch er fürchtet in diesem Fall eher eine Verschlechterung auf dem Land.