Ein anderer Weg – nach oben
In der Supersport-Serie entwickelt Sandro Cortese alte Tugenden neu, wird Weltmeister und interessant für Größeres
BERKHEIM - Der Satz klang für manchen nach Pfeifen im Wald. „Kein Abstieg“, ließ Sandro Cortese im Februar wissen, sei sein Wechsel aus der Moto2-Weltmeisterschaft in die der seriennahen Supersport-Maschinen, sondern „ein anderer Weg“. Alternative damals wäre das Karriereende gewesen, nach 221 Grand-Prix-Starts seit 2005, nach dem WM-Triumph in der Moto3-Klasse 2012, nach zuletzt fünf doch kargen Jahren Moto2 beim Memminger Dynavolt IntactGP-Team.
Jetzt steht Sandro Cortese wieder an einer Weggabelung – und vor einem Aufstieg: Die Yamaha YZF-R6 von Kallio Racing hat der 28-Jährige aus Berkheim (Landkreis Biberach) so schnell chauffiert, dass der WM-Titel Lohn gewesen ist. Sandro Corteses zweiter, der „fast noch wichtigere – einfach, um zu zeigen: Man kann’s auch noch mal.“Bei Yamaha haben sie genau hingeschaut und dem Supersport-Champion 2018 einen Platz in der Superbike-Weltmeisterschaft 2019 angeboten. Auf einer YZF-R1 des werksunterstützten GRT-Teams von Mirko Giansanti. 1000 Kubikzentimeter Hubraum, „100 PS mehr“. Eine weltmeisterliche Herausforderung, „ein Sechser im Lotto“sowieso.
Die finnische Mentalität gefiel
Nicht der einzige für Sandro Cortese in diesen Tagen. Der Einladung seines Fanclubs zur Weltmeister-Feier in Berkheims Festhalle folgten jetzt 700 Menschen. Das freute den Umjubelten „mega – weil die Leute, egal, ob’s gut gelaufen ist oder schlecht, immer zu mir gestanden sind“. Könnte etwas mit Sandro Corteses Geerdetsein zu tun haben: sich unter seine Anhänger mischen, hier ein Autogramm, da ein Selfie, dort ein Plausch – eine Selbstverständlichkeit. Da weiß einer, wo er herkommt. Und hingehört. Auch wenn der Oberschwabe mit italienischen Wurzeln ganz offenbar ein Faible für Suomi entwickelt hat. Aki Ajo ist Finne, der Teamchef seinerzeit beim Moto3-Coup. Vesa und Mika Kallio stammen aus Valkeakoski, „sie haben von Anfang an an mich geglaubt“. Vertrauen macht schnell(er); in die Top-Sechs fuhr Sandro Cortese die Yamaha mit der Startnummer 11 bei allen zwölf Supersport-WM-Läufen. Zwei Siege – im MotorLand Aragón und in Donington Park – krönten diese Serie, dreimal ging Sandro Cortese von der Pole Position auf die Hatz nach Zehnteln, siebenmal gelang ihm die schnellste Rennrunde.
Und seine Crew? Tat ihren Part stets gleichbleibend sachlich, ruhig, fokussiert. Finnisch unterkühlt also? Ein Grinsen. „Diese Einstellung zur Arbeit gefällt mir extrem.“Kein himmelhoch jauchzend, kein zu Tode betrübt, aber so ziemlich immer eine Idee. „Und nach dem Rennen wird schon wieder fürs nächste analysiert.“
Beste Voraussetzungen folglich, die Sandro Cortese bestens zu nutzen wusste. Mit bemerkenswerter Konsequenz. Hübsches Beispiel: Jäh führte das Moto2-Idealgewicht („immer zwischen fünf- und sechsundsechzig“) in der neuen Klasse zu „massiven Schwierigkeiten, auf der Geraden mitzufahren, weil ich jetzt einfach zehn Kilo zu schwer war“. Im Supersport gibt es ein Limit nur für die Maschine (Minimum 161 Kilogramm); Sandro Cortese nahm ab. „Fünf Kilo über die Saison, ich hab’ jedes Salatblatt gezählt.“Beispiel zwei: Ein früher Sturz in Portimao bremste bloß kurz. Aufstehen, schütteln, weiterfahren, Sechster werden, Punkte holen.
Nervenstark und abgeklärt
Wer Sandro Cortese als zaudernd kritisiert hatte zuvor, erlebte nun Kampfgeist, Durchsetzungswillen, Speed sowieso. Und Cleverness. Samt Nervenstärke: Wie der WM-Führende beim Saisonfinale in Losail/Katar seinen ärgsten Rivalen Jules Cluzel hinter sich hielt, jede Attacke des 30-jährigen Franzosen abwehrte, wie er die 75-minütige Startverzögerung wegen eines Unwetters weggesteckt hatte: vom Feinsten! Das beste – weil abgeklärteste – Rennen seiner bisherigen Laufbahn?, wollten sie in Berkheims Festhalle von ihrem Weltmeister wissen. „’s wichtigste vielleicht.“
Zwölf Monate das, nachdem der Tiefpunkt erreicht war: Die Moto2Saison 2017 bei Dynavolt IntactGP prägten ein ständiges Wollen aller ... und allzu seltenes Gelingen. Eine diffus ungute Gemengelage, „irgendwie hat es nicht gepasst“. Nicht der Chassis-Wechsel von Kalex zu Suter, nicht die Performance auf der Strecke, nicht die Zeiten und Platzierungen in den Ergebnislisten. Konsequenz: „Mir hat ’s Motorradfahren nicht mehr Spaß g’macht.“Und das inmitten von Vertrauten, von Wegbegleitern seit jeher. „Da hat“– das will Sandro Cortese unbedingt loswerden – „auch keiner Schuld. Ich freu’ mich auch, wenn die Jungs jetzt Erfolg haben.“
Der Anruf aus Valkeakoski dann, der „andere Weg“. Kein zwingend leichterer, denn ein Jules Cluzel, Lucas Mahias, Federico Caricasulo oder Randy Krummenacher verstehen sich aufs Schnellsein. Wie stark die Supersport-WM tatsächlich ist? „Natürlich sind es in der Moto2 vielleicht die ersten 15, die eng beieinander sind. Bei uns sind’s vielleicht die ersten fünf bis sechs – aber die fünf, sechs zu schlagen war auch eine Riesenaufgabe.“
Wer da besteht, hat sich den Aufstieg verdient. Superbike-Weltmeisterschaft künftig, das Kennenlernen von Menschen und Motorrad ermöglichen Tests heute und morgen in Jerez de la Frontera. Berührungsängste hat Sandro Cortese keine, auf seine „ersten Runden überhaupt auf einer Tausender“ist er „total gespannt“, auf Teamkollege Marco Melandri auch. 250-ccm-Weltmeister 2002 ist der Mann aus Ravenna, 22 Superbike-Läufe hat er gewonnen. Ein „großes Kaliber“. Nicht das einzige, wenn am 22. Februar auf Philip Island die Saison startet. Mit viel Vorfreude im Gepäck. Und einem Vorsatz: „Man will so schnell wie möglich schnell fahren.“
Pfeifen im Wald? Eher nicht.