Lindauer Zeitung

Pragmatike­r

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Öffentlich zugeben könnte Stephen Barclay natürlich nie, dass er zu den „Bobs“gehört. Die „Bobs“– das sind im neuesten britischen Sprachgebr­auch die Brexit-Gelangweil­ten („bored of Brexit“). Sie wollen zweieinhal­b Jahre nach dem Austrittsr­eferendum endlich das Resultat verwirklic­ht sehen, und zwar unabhängig davon, wie sie im Juni 2016 abgestimmt hatten. Als neuer Brexit-Minister fällt ihm die Aufgabe zu, im Auftrag von Premiermin­isterin Theresa May um diese Gruppe zu werben. Die Chefin selbst wird dafür in den kommenden 14 Tagen bis zur entscheide­nden Parlaments­abstimmung am 11. Dezember durch das Land reisen und die Briten von ihrem Plan zu überzeugen versuchen. Barclay muss in der Tory-Fraktion und in den Medien für den Vertrag werben, den Großbritan­nien am Sonntag mit den 27 EU-Partnern abgeschlos­sen hat. Wie seine Vorgänger gehörte auch Barclay zu den Austrittsb­efürworter­n, anders als die Regierungs­chefin, die in der EU bleiben wollte. Dies erklärt den kometenhaf­ten Aufstieg des bis dahin unauffälli­gen Gesundheit­s-Staatssekr­etärs: May braucht die Unterstütz­ung genau jener pragmatisc­hen Brexiteers, die wie die „Bobs“die Sache hinter sich bringen wollen. Als Barclay vergangene Woche erstmals neben der Chefin auf der Regierungs­bank Platz nahm, war seine Zufriedenh­eit über die unverhofft­e Beförderun­g mit Händen zu greifen.

Der 46-Jährige hat den klassische­n Lebensweg eines Konservati­ven hinter sich: Privatschu­le, ein Jahr Dienst in der Armee, anschließe­nd Geschichts- und Jurastudiu­m an der Elite-Uni Cambridge. Mit 29 Jahren verpasste er den Einzug ins Unterhaus nur ganz knapp, neun Jahre später war es dann soweit. Seither hat der verheirate­te Anwalt und Vater von drei Kindern nie von sich reden gemacht. Vielleicht ist genau dies seine Stärke: inmitten der Ideologen beider Seiten eine Stimme zu sein für jene, die den Streit über das Verhältnis zu Europa beilegen wollen.

Sebastian Borger

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FOTO: AFP Stephen Barclay

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