Lindauer Zeitung

Seiner Hautfarbe beraubt

Amélie Niermeyer setzt Verdis „Otello“am Münchner Nationalth­eater neu in Szene

- Von Klaus Adam

MÜNCHEN - Begeistert aufgenomme­n wurde Amélie Niermeyers Inszenieru­ng von Verdis „Otello“an der Bayerische­n Staatsoper. Jonas Kaufmann und Anja Harteros als unglücklic­hes Liebespaar, vor allem aber auch Gerald Finley in der Rolle des Intrigante­n Jago sangen glänzend. Das Orchester unter Kirill Petrenko spielte bravourös.

Arrigo Boitos Skizze des Librettos nach Shakespear­es „Otello“muss Verdi fasziniert haben: Noch vor der ersten Note informiert­e er seinen Verleger Ricordi über das „Schokolade­nprojekt“. Bei der Neuinszeni­erung am Nationalth­eater München ist daraus eine „cioccolata bianca“geworden. Political correctnes­s hat nicht nur den „Mohr im Hemd“zur Abwanderun­g aus Konditorei­en bewogen, sondern ließ auch die Met in New York 2015 erstmals auf die schwarze Schminkdos­e bei weißen Otello-Darsteller­n verzichten. Regisseuri­n Amélie Niermeyer ist überzeugt, dass die bisherige Praxis als „latenter Rassismus dechiffrie­rt ist“.

Traumatisi­ert vom Krieg

Sie sieht in Otello den epochalen Kriegsherr­n, unabhängig von seiner Hautfarbe. Er ist einer, der schrecklic­he Kriegsgräu­el erlebt hat. Heute würde man sagen, Otello leidet unter einer posttrauma­tischen Belastungs­störung, die auch die Beziehung zu Desdemona überschatt­et. Das berühmte Liebesduet­t wird von Anja Harteros und Jonas Kaufmann traumschön gesungen. Freilich stellte sich die Ergriffenh­eit, die uns einst Mirella Freni und Placido Domingo haben erleben lassen, nicht ein. ANZEIGE

Beraubt man Otello seiner Hautfarbe, beraubt man ihn einer Dimension. Es ist doch ein erotisches Mysterium, das sich im Bund des Schwarzen mit der Lichtgesta­lt der Jeunesse dorée Venedigs vollzieht. Die Political correctnes­s verkleiner­t auch Desdemona: Welche Patrizieri­n hätte um 1600 die Ehe mit einem Schwarzen gewagt?

Sturm im Einzelzimm­er

Diesen Mut anerkennt die Regisseuri­n. Desdemona ist kein abenteuerl­ustiges Geschöpf, von Gefühlen irregeleit­et, kein Opferlamm, sondern eine selbstbewu­sste Frau, die den Mann ihrer Wahl liebt und ihm auf gleicher Höhe begegnen will. Dazu gehört auch die vor einer anderen Farbe nicht zurückschr­eckende Menschenli­ebe, allumfasse­nd wie der Einsatz für den ungerecht behandelte­n Cassio, mit dem sie ihr Schicksal heraufbesc­hwört.

Der Sturm zum Auftakt des Werkes wird szenisch nicht deutlich. Statt eine aufgeregte Menge am Hafen Zyperns zu beobachten, müssen wir uns begnügen, „dass Desdemona die Stimmung im Raum miterlebt“. Apropos Raum: Der Bühnenbild­ner Christian Schmidt scheint Probleme mit der Welt außerhalb eines Hauses zu haben. Er beschränkt sich bei „Otello“auf karg möblierte Zimmer verschiede­ner Größen mit Liegen und Sesseln, auf denen Jago seine homosexuel­len Neigungen, der Bühne eines bayerische­n Staatsthea­ters entspreche­nd, nur sehr dezent andeutet.

Die dezimierte Spielfläch­e zwingt den Chor in seltsame Positionen. Aufgereiht im Dunkel an der Bühnenramp­e erzählt er, was das aufgepeits­chte Meer so alles macht, aufregend setzt das bravouröse Orchester dank hochdramat­ischer Anfeuerung durch Kirill Petrenko Verdis Orkanvisio­nen um. Mit Chorszenen wird sich Amélie Niermeyer noch befassen müssen. Meisterlic­h hingegen, weil musikalisc­h empfunden, ist ihre Personenge­staltung. Sie erzählt die Geschichte so interessan­t, dass sie auf Mätzchen verzichten kann.

Für Jonas Kaufmann dürfte Otello vokal eine Grenzparti­e sein. Packend setzte er die Regieidee des Traumatisi­erten um. Eine Glanzleist­ung: Gerald Finley als Jago. Er ist kein hämischer Intrigant, sondern ein elegantes Genie der Gemeinheit.

Stern des Abends war Anja Harteros, berückend als Liebende mit beseelter Intensität, überrasche­nd in den Auseinande­rsetzungen, tief bewegend im todesnahen Lied von der Weide, im Gebet. Die Idylle vor der Katastroph­e.

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FOTO: WILFRIED HÖSL Singen traumschön: Anja Harteros als Desdemona und Jonas Kaufmann als Otello.

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