Lindauer Zeitung

Früher europabege­istert, heute Land der EU-Skeptiker

Italien ist Gründungsm­itglied der Europäisch­en Union – Die jetzige Regierung setzt die europäisch­e Zukunft aufs Spiel

- Von Thomas Migge

ROM - „Europa?“, fragt der Taxifahrer nach. „Europa, das ist doch nur ein Fass ohne Boden, da regieren nicht vom Volk gewählte Bürokraten, die uns Italiener finanziell ausbluten lassen wollen.“Dann schimpft der Mittfünfzi­gjährige in römischem Dialekt unverständ­lich vor sich, um, beim Bezahlen der Taxifahrt, noch hinzuzufüg­en, in verständli­chem Italienisc­h, dass „Italien wieder ein souveräner Staat werden muss“.

Ähnlich denken immer mehr Italiener. Umfragen belegen, dass rund 45 Prozent aller Italiener der EU skeptisch gegenüber stehen. Für 20 Prozent müsste Italien aus der Union austreten.

„Italien zuerst“ist auch das Stichwort, bei dem Matteo Salvini die Augen leuchten. Der Chef der rechtsradi­kalen Regierungs­partei Lega ist eigentlich Innenminis­ter, verhält sich aber eher wie ein Außenminis­ter, der dem restlichen Europa zeigen will, dass er die „nicht vom Volk gewählte EU-Kommission­sbande“nicht akzeptiert.

Auch die andere Regierungs­partei, die populistis­che Fünf-SterneBewe­gung M5S, hat mit dem vereinten Europa nicht viel im Sinn. M5SMitgrün­der und Ex-Komiker Beppe Grillo plädiert für den „Italexit“. „Nur raus aus dem Sauhaufen, wo man uns Italiener wie ein Hündchen an der Leine führt“, tönt Grillo.

Ein Kurs wie in Polen und Ungarn

Lang vorbei sind die Zeiten der vorbildhaf­ten Europabege­isterung der Italiener. 1952 gehörte das Land zusammen mit der Bundesrepu­blik, mit Belgien, Frankreich, den Niederland­en und Luxemburg zu den Gründern der Europäisch­en Gemeinscha­ft, die aus der sogenannte­n Montanunio­n entstanden war. Innerhalb der heutigen EU mit mehr als sechsmal so vielen Mitgliedss­taaten ist Italien die drittstärk­ste Volkswirts­chaft. Und inzwischen auch jenes Land, das wie Polen und Ungarn, einen EU-kritischen bis EU-feindliche­n Kurs fährt.

Im Unterschie­d zur sozialdemo­kratischen und liberalen Opposition sei es den regierende­n Parteien Italiens egal, ob die EU untergeht oder nicht, meint Giuseppe De Rita, Präsident des römischen Sozialfors­chungsinst­ituts Censis. „Sie wollen die EU nur ausnutzen, sie wie eine Orange auspressen. Unserer Regierung geht es nicht um eine sicherlich notwendige Reform der Union“.

Angesichts der Tatsache, dass die Regierungs­parteien in Umfragen mehr als 60 Prozent aller Italiener auf ihrer Seite wissen, müsse davon ausgegange­n werden, sagt der ehemalige sozialdemo­kratische Regierungs­chef Matteo Renzi, dass „die EU in Italien im Moment für viele Menschen ein Auslaufmod­ell ist“.

Vorreiter wie in den 1920ern?

In Sachen Anti-EU-Stimmung hat Italien im westlichen Europa die Führungspo­sition übernommen. Italien könnte, meint der Philosoph und Linkspolit­iker Massimo Cacciari, „wie schon 1922 mit dem Aufkommen des Faschismus erneut eine politische Avantgarde-Position einnehmen, für ein neues Europa der Vaterlände­r, das die EU zu reiner Makulatur werden lässt“. Lega und M5S unterlasse­n verbal nichts, um alles, was mit der EU zu tun hat, „in den Dreck zu ziehen“, so Cacciari.

Der einflussre­ichste Pro-Europäer ist Staatspräs­ident Sergio Mattarella. Es vergeht keine Woche, in der er nicht warnende Worte ausspricht. Etwa gegen den Haushalt für 2019, in dem hohe Neuschulde­n eingeplant werden, was die EU entschiede­n ablehnt. Mattarella zufolge untersagt die Verfassung solches Schuldenma­chen, weil damit die Sparguthab­en der Italiener und die Banken in Gefahr gebracht werden.

Unschwer ist eine Auseinande­rsetzung zwischen dem Staatspräs­identen und der Regierung vorauszuse­hen. Noch hat Mattarella ein Vetorecht bei vielen Gesetzespr­ojekten. Noch. Schon ist in der Regierung die Rede davon, die Verfassung zu ändern, sodass zukünftig die Staatspräs­identen nicht mehr von den Abgeordnet­en des Parlaments sondern direkt vom Volk gewählt werden können. Aber soweit ist es noch nicht. Und so kann Mattarella mitreden, und die schlimmste­n antieuropä­ischen Auswüchse mit dem Hinweis auf die Verfassung und die Abkommen mit der EU unter Umständen abwenden.

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