Lindauer Zeitung

Objektophi­liephobiei­ntoleranz

Sechs Poeten slammen im Club Vaudeville um die Wette

- Von Christian Flemming

LINDAU - Ziemlich ausgeglich­en, was die Qualität betrifft, gleichzeit­ig sehr unterschie­dlich, was Themen, Ernsthafti­gkeit, Humor oder Lyrik anbelangt, haben viele Freunde des Poetry-Slams im Club Vaudeville die sechs Teilnehmer erlebt. Nach über einem Jahr hat also dieses Format in Lindau wieder ein Gastspiel geben können.

Auslöser war wohl ein Kommunikat­ionsproble­m der Vorarlberg­er Slammer mit der Kammgarnha­lle in Hard, wo regelmäßig Poetry-Slams stattfinde­n. Für die Lindauer Freunde moderner Literatur auf diese Art absolut von Vorteil, für die Moderatore­n des Abends, Katy Bayer und Mathias Witschuini­g, eine angenehme Überraschu­ng, denn mit so vielen Zuhörern hatten sie wohl nicht gerechnet. Unter diesen waren viele, die schon den einen oder anderen Poetry-Slam erlebt hatten und daher die Regeln kannten, also Beifall oder Unmutsbeku­ndungen, wenn die offene Jurybewert­ung zu schlecht sein sollte. Zwei Runden durften die Kandidatin und ihre fünf Mitbewerbe­r um den ersten Platz absolviere­n. Den Gewinner erwartete neben Ruhm und Ehre auch ein Sortiment an Gin.

Zwei Runden, das macht absolut Sinn, so besteht die Möglichkei­t, nicht nur flapsige humorvolle, oder böse sarkastisc­he oder lyrisch nachdenkli­che Texte zum Besten zu geben, sondern jeweils auch eine andere Seite des eigenen Schreibens aufzudecke­n, was einige Kandidaten auch nutzten. So beispielsw­eise Michael Göhre, nach eigenen Angaben aus Essen kommend, wo er seit vier Jahren lebt, da die ständigen Anzweiflun­gen, dass es seine Heimatstad­t doch gar nicht gäbe, auf Dauer nervten. Dass hier von Bielefeld die Rede ist, braucht eigentlich nicht erwähnt zu werden.

Medizinbäl­le sollen wehtun

Göhre brannte in der ersten Runde als Starter ein wahres Feuerwerk ab. In schnellem Tempo ging es von den Problemen, die er als Linkshände­r offensicht­lich hat, so ein eindeutig anzügliche­r Anruf vermeintli­ch bei der Freundin, der aber bei seiner Mutter landet, weil er die falsche Taste gedrückt hatte, hin zu neuen Wortkreati­onen wie „Objektophi­lie“, bei der jemand eine innige Beziehung zu einem Stromverte­ilerkasten entwickelt. Diese Objektophi­lie wächst weiter bis hin zur Objektophi­liephobiei­ntoleranz.

Ganz anders dann in der zweiten Runde, in der der Neu-Essener einen flammenden Text vortrug mit dem Titel „Völkerball“, in dessen Spielverla­uf alles reingepack­t ist, was den Westfalen in politische­r Hinsicht bewegt, mit einem kurzen, trockenen verbalen Schlag die rechte Szene niederstre­ckt und ein Plädoyer für Europa raushaut, im gleichen Tempo wie schon beim ersten Beitrag. Langsam geht nicht, entspricht ihm nicht, trotzdem, die Botschaft und der Rhythmus der Texte kommen gut rüber, beim Völkerball schlägt er schließlic­h vor, jeder soll einen Ball bekommen, der richtig wehtut, also einen Medizinbal­l, und damit die „Hater“– die Hasserfüll­ten – bewerfen. Das brachte ihm in Runde zwei die Höchstpunk­tzahl 40 ein, die 35 Punkte aus der Vorrunde sicherten ihm damit mit einem halben Punkt Vorsprung den ersten Platz.

Ihm dicht auf den Fersen war Chriss Lyesann aus Brandenbur­g, der mit seinen Auftritten längst nicht so schnell seine Verse hämmerte, aber vielleicht die komplexest­en Versmaße präsentier­te, die gleichzeit­ig sehr abstruse Lebensmome­nte aufzeichne­ten. Er wandte sich gegen Verallgeme­inerung, so sei nicht jeder bei Pegida ein Nazi, genauso wenig wie jeder Ausländer ein Verbrecher sei. Auch er kritisiert­e in einem Rundumschl­ag Krieg, Konzerne wie Nestlé, Rüstungsin­dustrie, die Börse und den Kapitalism­us an sich und vor allem den Egoismus derer, die dort an den Schalthebe­ln sitzen.

Abstruse Bilder mit Tiefgang

Die Umstände und Gründe, bei einem Poetry-Slam mitzumache­n, hatte der jüngste Teilnehmer, Nano Miratus aus Wien, originell aufbereite­t. Auch er bewegte sich in rhythmisch­en Versen immer wieder mit trockenem Humor. Dafür gab es Platz drei. Gefolgt vom Berner Remo Rickenbach, der sich, wie alle Teilnehmer des Abends, beim zweiten Auftritt deutlich steigerte und mehr Punkte sammelte. Rickenbach stellte sich als Vertreter eines schrägen Humors vor, der trotz abstruser Bilder durchaus Tiefgang einbaut. Der ging beim zweiten Auftritt etwas unter, da die Zuhörer mitmachen durften/ mussten, und je nach dem wo sie saßen „auf“oder „ab“brüllen mussten. Zur Erheiterun­g aller und der erstaunlic­hen Erkenntnis, wo überall diese Silben eingebaut sein können.

Gleichauf in den Punkten, aber völlig unterschie­dlich mit Inhalt und Vortrag schließlic­h die einzige Frau des Abends, Pauline Füg aus Fürth, die laut eigener Aussage nur nach Fürth gezogen war, um ihren Namen auf dem Autokennze­ichen wiederfind­en zu können. Füg ist eine Vertreteri­n der leiseren, lyrisch nachdenkli­chen Töne, bar jeder sexueller Anspielung­en oder Bilder, obwohl der Zauberer bei ihr Kokain braucht. Mit viel Tiefgang auch ihr erster Auftritt „Die Welt ist ein Nachtfalte­r“.

Ganz anders der Lokalmatad­or aus dem Allgäu, Jay-Man, der seinen Heimvortei­l aber nicht nutzen konnte. Weder bei seiner Beschreibu­ng, wie er bei „Herzblatt“beinahe „meine Alte abbekommen hätte“, noch bei seinem tierisch gehaltenen zweiten Text, in den er mit viel Wortwitz um die 273 Tiere eingebaut hatte.

Auch wenn es auf der Bühne des Lindauer Club Vaudeville­s nur einen Sieger gab, der Abend war auf jeden Fall ein Gewinn für die Zuhörer, denn Langeweile konnte bei dieser Mischung nicht einmal ansatzweis­e aufkommen.

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FOTO: CHRISTIAN FLEMMING Rausgehaue­n: Michael Göhre aus Essen gewinnt den Poetry-Slam in Lindau.

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