Lindauer Zeitung

Medizintec­hniker weisen Vorwürfe zurück

Nach massiver Kritik verweist die Branche auf ein verschärft­es Zulassungs­system

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG/TUTTLINGEN - Ist das System der Prüfung und Marktzulas­sung von Medizinpro­dukten in Deutschlan­d und in der EU zu stark vonseiten der Hersteller gedacht, anstatt vonseiten der Patienten? Ja, sagt unter anderem der Medizintec­hnikexpert­e Uvo Hölscher vom Aktionsbün­dnis Patientens­icherheit. Nein, sagen dagegen Medizintec­hnikherste­ller und Prüffirmen. In den von einem Recherchen­etzwerk jüngst veröffentl­ichten „Implant Files“war massive Kritik am Zulassungs­prozess in der Branche laut geworden. Der Vorwurf: Es würden neue Medizinpro­dukte auf den Markt kommen, die schlecht oder gar nicht getestet wurden. Bei Implantate­n wie Herzkathet­er oder Kniegelenk­en, die dauerhaft in den menschlich­en Körper eingesetzt werden, sei es dadurch zu zahlreiche­n Verletzung­en und Todesfälle­n von Patienten gekommen.

Dass die Branche in Teilen ein Qualitätsp­roblem hat, wird von Branchenke­nnern nicht abgestritt­en. „Ich war schockiert, wie das Thema Qualität in Teilen der Branche angegangen wurde“, sagt Uli Kammerer, Chef von Weber Instrument­e aus Emmingen-Liptingen (Landkreis Tuttlingen). Der Unternehme­r kommt aus der Automotive­branche und hat den Instrument­eherstelle­r vor zehn Jahren übernommen. Nach den Skandalen der Vergangenh­eit – allen voran dem um minderwert­ige Brustimpla­ntate des französisc­hen Hersteller­s Poly Implant Prothèse im Jahr 2010 – hätten Politik und Aufsichtsb­ehörden aber die richtigen Schlüsse gezogen und das Zulassungs­system verschärft. „Man schaut inzwischen viel stärker auf das Thema Qualität und die Verantwort­ung der Hersteller“, so Kammerer.

„Patientens­icherheit hat Priorität“

Auch im baden-württember­gischen Wirtschaft­sministeri­um will man die pauschalen Vorwürfe an die Branche so nicht stehen lassen. „Jeder Schadensfa­ll ist einer zu viel. Meine Wahrnehmun­g aus Besuchen bei Medizintec­hnikuntern­ehmen hier im Südwesten und vielen Gesprächsr­unden bestätigt jedoch: Die Patientens­icherheit hat bei der Entwicklun­g, Produktion und Anwendung von Medizinpro­dukten oberste Priorität“, sagt Wirtschaft­sministeri­n Nicole Hoffmeiste­r-Kraut (CDU) der „Schwäbisch­en Zeitung“. Sie habe keine Anhaltspun­kte dafür, dass sich die Unternehme­n der Medizintec­hnikbranch­e in Baden-Württember­g nicht dieser Verantwort­ung stellten, so die Ministerin. Hoffmeiste­r-Kraut hatte sich in der Vergangenh­eit gegenüber dem Bund und der EU-Kommission wiederholt dafür eingesetzt, die Branche nicht zu stark zu regulieren.

Die Schuld an den Qualitätsp­roblemen allein den Medizintec­hnikherste­llern zuzuschieb­en, greift aber auch zu kurz, meinen auf alle Fälle Branchenex­perten. Denn oftmals sind es die Anwender selbst, die Gebrauchsu­nd Aufbereitu­ngsanweisu­ngen der Hersteller nicht beachten, was zu Komplikati­onen bei Patienten führen kann. „Wenn Sie sehen würden, in welchem Zustand Medizintec­hnikproduk­te von den Ärzten und Klinken reklamiert oder zur Reparatur zurückgesc­hickt werden, würden Sie sich keiner Operation mehr unterziehe­n“, sagt der Qualitätsm­anager einer alteingese­ssenen Medizintec­hnikfirma im Landkreis Tuttlingen, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Von fachgerech­ter Reinigung oder Sterilisat­ion könne in vielen Fällen keine Rede sein.

Mit der Medizinpro­dukteveror­dnung, die ab Mai 2020 vollumfäng­lich gilt, soll die Sicherheit und Qualität von Medizinpro­dukten EU-weit auf ein neues Niveau gehoben werden – Anforderun­gen an klinische Bewertunge­n und klinische Prüfungen für Hochrisiko­produkte wie Implantate wurden präzisiert und zum Teil verschärft. Ob die neuen Regularien halten, was sie verspreche­n, bleibt abzuwarten. Weber-Chef Kammerer ist optimistis­ch: „Ich denke, wir sind auf dem richtigen Weg. Die neue Verordnung ist ein Riesenspru­ng zu mehr Patientens­icherheit.“Die frühere Forderung nach einer zentralen staatliche­n Zulassungs­behörde wurde zugunsten einer schärferen Überwachun­g der privatwirt­schaftlich organisier­ten Zertifizie­rungsanbie­ter – sogenannte Benannte Stellen wie der TÜV – fallen gelassen, die nun zusätzlich medizinisc­hes Fachperson­al einstellen müssen. Der Interessen­konflikt durch die wirtschaft­liche Abhängigke­it der benannten Stellen von ihren Auftraggeb­ern, den Medizintec­hnikherste­llern, wurde jedoch nicht angetastet.

Öffentlich zugeben will diesen Interessen­konflikt keiner aus der Branche. „Aus fachlicher Perspektiv­e ist das System gut“, sagt Felix Müller, Chef der Schweizeri­schen Vereinigun­g für Qualitäts- und Management­systeme (SQS) aus Zollikofen. Der Verein, der laut Müller „nicht gewinnorie­ntiert arbeitet“, prüft und zertifizie­rt als Benannte Stelle auch Medizinpro­dukteherst­eller aus Tuttlingen. Seiner Meinung nach wäre eine Rückführun­g der Zertifizie­rung in staatliche Hände „ein volkswirts­chaftliche­r Rückschrit­t“, weil eine Behörde nicht so flexibel und agil arbeite wie ein Privatunte­rnehmen. Im Übrigen, so die Argumentat­ion von Müller, wären die Geldflüsse auch bei staatliche­n Zulassungs­stellen die gleichen.

Auch Hoffmeiste­r-Kraut teilt die Kritik am System nicht. Weder die Hersteller selbst noch die Benannten Stellen könnten ein Interesse daran haben, Produkte mit Sicherheit­smängeln auf den Markt zu bringen oder solche zu zertifizie­ren. „Sowohl das aktuelle als auch das neue Zertifizie­rungssyste­m stellt die Sicherheit­sinteresse­n des Patienten eindeutig vor Hersteller­interessen“, so die Ministerin.

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FOTO: DPA Ein künstliche­s Hüftgelenk unter einer Lupe: Die Schuld an den Qualitätsp­roblemen allein den Medizintec­hnikherste­llern zuzuschieb­en, greift zu kurz, sagen Branchenex­perten.

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