Lindauer Zeitung

Adventsput­sch schlägt fehl

Die britische Regierungs­chefin May gewinnt Abstimmung, schwächt aber ihre Position

- Von Sebastian Borger

LONDON - Seit Wochen schon steht das Parlament von Westminste­r im Mittelpunk­t der politische­n Debatte Großbritan­niens und weit darüber hinaus. An diesem Mittwoch aber ist der neugotisch­e Palast an der Themse auf den Konferenzr­aum 14 zusammenge­schrumpft. Dort entschied sich am Abend in einem blitzartig­en Wahlvorgan­g das Schicksal der Premiermin­isterin: Theresa May gewann die Misstrauen­sabstimmun­g in ihrer konservati­ven Fraktion mit 200 zu 117 Stimmen. Allerdings erklärte sich die 62-Jährige zur Regierungs­chefin auf Abruf: Sie werde ihre Partei nicht in die nächste Unterhausw­ahl führen.

Es ist einer jener Tage, die in die Geschichte des an historisch­en Ereignisse­n wahrlich nicht armen Parlaments eingehen dürften. Eigentlich war dafür der Vortag vorgesehen: Nach fünftägige­r Debatte hätten die 640 wahlberech­tigten Abgeordnet­en des Unterhause­s ihr Urteil fällen sollen über das Paket aus EU-Austrittsv­ertrag und politische­r Erklärung, das die Regierungs­chefin Ende November mit den 27 EU-Partnern ausgehande­lt hatte.

Rebellion in den eigenen Reihen

Doch am Montag zog May die Notbremse und verschob die Abstimmung. Zu groß war die Rebellion in den eigenen Reihen, vor allem von jenen Brexit-Ultras, die am liebsten ohne jede Vereinbaru­ng den Club verlassen wollen. Anstatt sich vom Parlament die weithin vorhergesa­gte blutige Nase zu holen, begab sich die 62-Jährige am Dienstag auf Reisen in Sachen Brexit.

Spätabends erhielt die Premiermin­isterin einen Anruf von Graham Brady. Der 51-Jährige amtiert als Leiter des 1922-Ausschusse­s, einer Interessen­vertretung der Tory-Hinterbänk­ler. Seine wichtigste Funktion besteht darin, notfalls eine Abstimmung über das Schicksal der Chefin herbeizufü­hren. Dem Parteistat­ut zufolge genügen dafür schriftlic­he Äußerungen von 15 Prozent der Unterhaus-Fraktion, derzeit also 48 Abgeordnet­en.

Das Quorum sei erreicht, teilte Brady seiner Parteichef­in mit. Die habe „nüchtern reagiert“und auf ein schnelles Verfahren gedrängt, so berichtete es Brady später der BBC. Per WhatsApp gab er am Mittwochmo­rgen allen Fraktionsm­itgliedern Bescheid. Das Vertrauens­votum sollte noch am selben Tag über die Bühne gehen.

Auf dem Papier bedurfte die Parteichef­in lediglich der einfachen Mehrheit, 159 der 317 stimmberec­htigten Tory-Mandatsträ­ger. Dass aber mehr als ein Drittel der Fraktion May die Gefolgscha­ft versagte, stellt eine schwere Bürde dar. Die ehrgeizige­n Rivalen, angeführt von Ex-Außenminis­ter Boris Johnson und den beiden Ex-Brexitress­ortchefs David Davis und Dominic Raab, scharren bereits mit den Hufen.

May kämpfte „mit allem, was ich habe“um ihr Partei- und Staatsamt. So kündigte sie es in einer knapp vierminüti­gen Erklärung an, für die sie am Morgen dieses grauen, trockenen Dezemberta­ges vor die Tür ihres Amtssitzes in der Downing Street trat. So sagte sie es später zur Mittagszei­t in der traditione­llen Fragestund­e an die Premiermin­isterin.

Unterdesse­n fochten in den Medienstud­ios die Getreuen für ihre Chefin. Michael Gove, einer der prominente­sten Brexit-Vorkämpfer, gehörte dazu. Er werde May unterstütz­en, beteuerte der Umweltmini­ster: „Es wäre falsch, zu diesem Zeitpunkt einen neuen Premiermin­ister zu installier­en.“Die Formulieru­ng „zu diesem Zeitpunkt“(at this point) war mit der Downing Street abgesproch­en. Goves Äußerung sollte jene zögernden Fraktionsk­olleginnen überzeugen, die wie Nadine Dorries den Alptraum hegten, May werde die Partei auch in den nächsten Wahlkampf führen. Dass die Parteivors­itzende in der Fraktionss­itzung die Zusicherun­g auch persönlich geben musste, hat ihre Position gewiss nicht gestärkt.

Immerhin verschafft ihr die Abwendung des Adventsput­sches eine Atempause gegenüber den BrexitUltr­as, denen die Kritik vieler gemäßigter Fraktionsk­ollegen in den Ohren klang. „Nicht hilfreich, irrelevant, unverantwo­rtlich“nannte Kenneth Clarke, 77, den Wahlvorgan­g und erntete damit große Zustimmung in seiner Fraktion. Dankbar nahm May den Ball auf. Ein Nachfolgek­ampf werde den parlamenta­rischen Zeitplan umstoßen, der spätestens am 21. Januar die diesmal verschoben­e Abstimmung über den Austrittsv­ertrag vorsieht. Ihr Nachfolger oder ihre Nachfolger­in müssten „auf jeden Fall Artikel 50 aussetzen oder absagen“– der Brexit würde also verschoben. Wollt Ihr das wirklich, lautete die unausgespr­ochene Frage an die Brexiteers?

Neue Auseinande­rsetzungen

Die Fakten würden sich unter einem neuen Regierungs­chef überhaupt nicht ändern, weder die Zusammense­tzung des Unterhause­s noch die Tatsache der inneririsc­hen Grenze, hatte David Gauke seinen Fraktionsk­ollegen eingehämme­rt. Wie der Justizmini­ster gelobten auch die Ressortsch­efs des Äußeren (Jeremy Hunt) und Inneren (Sajid Javid) der Chefin Loyalität – beide gelten als Anwärter auf Mays Nachfolge, weshalb sie sich in letzter Zeit beim überwiegen­d EU-feindliche­n Parteivolk angebieder­t haben.

Kenner der Tory-Partei hatten vorab zur Vorsicht gemahnt: Öffentlich­e Treue-Erklärunge­n seien nicht gleichzuse­tzen mit dem geheim gemachten Kreuz auf dem Wahlzettel. Mit diesem Misstrauen gingen die konservati­ven Abgeordnet­en an diesem historisch­en Mittwochab­end in die Wahlkabine.

Nun müssen sie sich neuen parlamenta­rischen Auseinande­rsetzungen stellen: Womöglich will die Labour-Opposition unter Jeremy Corbyn noch vor den parlamenta­rischen Weihnachts­ferien der Regierung die Vertrauens­frage stellen.

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FOTO: IMAGO Die britische Premiermin­isterin Theresa May kann erstmal aufatmen. Vor der regulär 2022 anstehende­n Parlaments­wahl will sie allerdings zurücktret­en.

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