Lindauer Zeitung

Leiwand und Flow

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Rund sechs Millionen Deutsche machen jährlich Urlaub in Österreich, und dort werden sie auch mit Austriazis­men konfrontie­rt. So nennt man Ausdrücke, die in Deutschlan­d als typisch österreich­isch wahrgenomm­en und sehr oft auch nicht sofort verstanden werden – was man als Sprachplau­dertasche unbedingt beachten sollte. Schifoan sei in Zeiten der Polarschme­lze auch nicht mehr so leiwand wie früher, stand hier letzte Woche, und das sorgte bei manchen Lesern für Stirnrunze­ln.

„Schifoan“, auf Standardde­utsch „Skifahren“, hieß der Song von Wolfgang Ambros, den er 1976 schrieb und der zu einer Art Winterspor­thymne unserer Nachbarn wurde. Und warum ging der alte Austro-Popper so gern auf die Piste? „Wei Schifoan is des leiwandste, wos ma sich nur vurstölln ko“, so sang er mit Inbrunst. Zugegeben: Wenn man es noch nie gehört hat, erschließt sich dieses leiwand nicht von allein. Wahrschein­lich ist das Wort sehr alt: Im Mittelalte­r war Leinwand eine kostbare Handelswar­e, und Webstühle standen überall – auch im Wiener Bürgerspit­al. 1432 bekam dieses Spital das Braurecht zuerkannt, nannte sein Gebräu Leinwandbi­er, und weil dieses wohl sehr gut war, galt fortan der Ausruf des is leiwand! als Bekundung höchsten Lobes. Heute steht leiwand für sehr schön, prima, toll, cool. Was das Nicht-Verstehen von Wörtern in Musikstück­en angeht, so ist das heute allerdings eher die Norm. Man würde sehr gerne einmal einen Test machen, wie viel deutsche Rundfunkhö­rer von den US-Christmas-Songs verstehen, die unsere Radiosende­r derzeit fast in PermanentS­chleife abnudeln. Es kann nicht sehr viel sein, sonst würden sie bei diesen meist sehr einfältige­n Texten noch unter dem Niveau von „Morgen kommt der Weihnachts­mann“entnervt abschalten. Oder liegt der Fall gar nicht so einfach?

Dieser Tage ging es auf „Spiegel Online“um den Unterschie­d zwischen englischen und deutschen Songtexten. Dabei befand ein sogenannte­r Popmusikwi­rkungsfors­cher, bei einem Song müsse es immer einen Flow geben, also eine Art rauschhaft­en Glücksgefü­hls. Der könne sich bei einem englischen Import einstellen. Werde aber ein Song auf Deutsch gesungen, so konzentrie­re man sich auf den Text und versuche, ihn zu interpreti­eren und mit Sinn zu füllen. Die Folge: Der Flow ist dahin. Und ein Musikwisse­nschaftler sekundiert­e ihm: Er fühle sich durch deutsche Texte viel häufiger gestört als durch fremdsprac­hige. Einen englischen Songtext nehme man eher wie ein weiteres Instrument im Lied wahr. Deswegen falle es weniger auf, wenn der Inhalt sinnfrei, bedenklich, klischeeha­ft oder kitschig ist. So dürfen wir also annehmen, dass mit fortschrei­tender Amerikanis­ierung noch mehr Songs zu uns hereinschw­appen, deren Texte zwar blöde sind, was uns aber egal sein kann, weil es sowieso besser ist, wenn wir sie nicht verstehen – von wegen Flow und so. Eines steht jedenfalls fest: leiwand ist das alles nicht.

 ??  ?? Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.
Rolf Waldvogel Unsere Sprache ist immer im Fluss. Wörter kommen, Wörter gehen, Bedeutunge­n und Schreibwei­sen verändern sich. Jeden Freitag greifen wir hier solche Fragen auf.

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