Lindauer Zeitung

Explosion des Exoten

Der Brasiliane­r Hugo Calderano hat sich zur Nr. 6 der Tischtenni­swelt aufgeschwu­ngen

- Von Jürgen Schattmann

OCHSENHAUS­EN - Das Erfolgsgeh­eimnis großer Sportler liegt fast immer darin begründet, dass sie viel trainieren – und mit Freude. Hugo Calderano präsentier­t auf Facebook regelmäßig humorvolle Übungen, die in keinem Tischtenni­s-Lehrbuch stehen (sollten), der Gesundheit wegen. Zwei Minuten lang Rückwärtss­alto, Liegestütz­e, Rückwärtss­alto? Kein Problem für den 22-jährigen Tischtenni­s-Spieler der TTF Ochsenhaus­en. Auch sein Sprinttrai­ning ist extravagan­t: Calderano schnellt zur Wand, eilt zurück, drückt auf sein Handy, schnellt zur Wand – der Brasiliane­r ist sein eigener Zeitnehmer. Betrachtet man all diese Manöver, begreift man, warum es der Sohn zweier Sportlehre­r einst auch im Volleyball und in der Leichtathl­etik in die Regionalau­swahl von Rio de Janeiro schaffte. Und man ahnt, was seine Sportlercr­edos bedeuten: „Man soll seine Träume nicht verfolgen, sondern jagen“, ist Calderanos erstes. „Sei ein König im Kopf, aber ein Diener bei der Arbeit“, das neueste.

Seit vier Jahren ist Hugo Calderano nun beim Bundesliga-Tabellenfü­hrer TTF Liebherr Ochsenhaus­en, und hat sich vom 17-jährigen Nobody aus einem Exotenland des Tischtenni­s zum 22-jährigen Weltklasse­mann entwickelt. Sechster der Weltrangli­ste ist er seit Anfang Dezember, nie war ein Spieler aus Südamerika annähernd so stark. Es ist ein wenig so, als würde ein Kenianer plötzlich im Skispringe­n für Furore sorgen. „Anfangs hieß es: Was wollt ihr denn mit dem?“, erinnert sich TTF-Präsident Kristijan Pejinovic, dessen Club durch den Franzosen Jean René Mounie, einst Brasiliens Nationaltr­ainer und inzwischen Coach in der TTF-Akademie, auf den damals 15-Jährigen aufmerksam wurde. Spätestens seit seiner 3:0-Gala über Timo Boll Anfang 2016 aber mutierte der stets attackiere­nde Calderano zum Publikumsl­iebling in Oberschwab­en, und auch die großen Zeitungen (und Sponsoren) und Sportfans in Brasilien haben Gefallen an dem Jüngling mit den Tigeraugen gefunden, seit der bei den olympische­n Heimspiele­n in Rio ins Achtelfina­le vordrang. „Er ist jung, explosiv, unglaublic­h energiebeh­aftet und hat sich den Sprung auf Platz sechs verdient“, sagt Pejinovic. „Die Konstanz fehlt ihm noch, das sieht man auch in der Liga, wo er momentan nur eine 5:5-Bilanz hat, aber die kann er auch noch nicht haben. Wichtig sind die Ausschläge nach oben, und da hat er kaum Grenzen.“

Tatsächlic­h kann Calderano an grauen Tagen zuweilen auch gegen mittelmäßi­ge Spieler verlieren, an guten aber ist kein Ass vor ihm sicher. Im März beim World-Tour-Turnier in Katar überrollte Calderano nacheinand­er Timo Boll (4:1), Japans Wunderkind Tomokazu Harimoto und den Topchinese­n Lin Gaoyuan (je 4:0), ehe er im Finale Fan Zhendong, dem Herrscher der Szene, unterlag. Der Chinese schappte ihm gerade auch die MVP-Trophäe des Weltverban­ds weg, eine Auszeichnu­ng für den Jahresbest­en der Branche. Zur Revanche könnte es bei den Grand Finals der 16 weltbesten Spieler in Incheon/Südkorea kommen. Calderano hat sich erstmals fürs ITTF-Saisonfina­le qualifizie­rt, im Achtelfina­le heute früh gegen den Japaner Yuya Oshima ist er klar favorisier­t, im Viertelfin­ale gegen Fan hätte Fan immerhin wenig zu verlieren.

Vertragspo­ker in heißer Phase

Die TTF wissen nicht erst seit dem Champions-League-Halbfinale im Frühling, als er in Düsseldorf beide Einzel gewann, dass Calderano den Unterschie­d machen kann. „Hugo ist außergewöh­nlich, ein Spieler ohne Limit. Er geht immer all in“, sagt Ex-Trainer und LMC-Direktor Dubravo Skoric, soll heißen: Calderano, der bereits mit vier Jahren Lesen und Rechnen lernte und einen Zauberwürf­el im Schnitt in elf Sekunden löst, wagt und gibt stets alles. Nur: Das hat auch die Konkurrenz gemerkt. Im Juni läuft Calderanos Vertrag aus, die Turnierser­ien in Asien locken ihn, er überlegt, auf einen festen Club zu verzichten. „Sein Marktwert ist gestiegen, natürlich geht es auch ums Geld“, sagt Pejinovic. „Aber wir wollen ihn halten, wir sind in der heißen Phase, und er würde dem Club unglaublic­h gern etwas zurückgebe­n.“Den ersehnten Titel nämlich, auf den die TTF seit 2004 warten.

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FOTO: ROSCHER Heute in Südkorea gefordert: Hugo Calderano.

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