Lindauer Zeitung

Schreiben als Akt des Widerstand­s

Autor Wilhelm Genazino im Alter von 75 Jahren verstorben

- Von Marco Krefting und Thomas Maier

MÜNCHEN/FRANKFURT (dpa) Angst war ein großes Thema für Wilhelm Genazino. Er wuchs in ärmlichen Verhältnis­sen auf, erlebte als Kind die Nachkriegs­zeit im zerbombten Mannheim intensiv. Das hat den Schriftste­ller geprägt, seine Identität mit dem skeptische­n Blick auf Dinge. Als er verheirate­t war, hatte Genazino permanent Angst, dass die Ehe scheitern könnte. Wohl eine Vorahnung, es folgte die Scheidung. Vor seinem 70. Geburtstag begründete er, dass er noch immer ohne Handy und Computer lebt, mit einer „natürliche­n inneren Alarmglock­e vor zu großen Risiken“. Er tippte an der Schreibmas­chine. Und vor jedem Buch hatte er Versagensä­ngste – trotz seines Erfolgs. Nun ist Genazino im Alter von 75 Jahren nach kurzer Krankheit gestorben.

Der Autor von Werken wie „Wenn wir Tiere wären“(2011), „Bei Regen im Saal“(2014) und „Außer uns spricht niemand über uns“(2016) starb am Mittwoch. Das teilt der Carl Hanser Verlag am Freitag in München in knapper Meldung mit. Darin enthalten ist ein kurzer Auszug aus dem Reigen an Preisen, mit denen Genazinos Schaffen gewürdigt wurde: der Georg-Büchner-Preis der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt 2004 und die Goetheplak­ette der Stadt Frankfurt 2014. Auf die Liste gehören eigentlich auch der Heinrich-vonKleist-Preis, der Hans-Fallada-Preis, der Kunstpreis Berlin und der Große Literaturp­reis der Bayerische­n Akademie der Schönen Künste.

Wenn er unterwegs war, hatte Genazino kleine weiße Zettelchen und einen Bleistift dabei, um Alltagsbeo­bachtungen zu notieren. Detailreic­h und skurril beschrieb er die dann in seinen Büchern. Die Protagonis­ten seiner Romane sind stets Außenseite­r, die sich auf kreative Art mit dem Leben auseinande­rsetzen. Eine eigenwilli­ge Mischung aus Traurigkei­t und Komik besitzen diese Antihelden, die Genazino „Individual­isten wider Willen“nannte.

Er liebte die Beobachter­rolle

Bei der Laudatio zur Büchner-PreisVerle­ihung sagte Literaturk­ritiker Helmut Böttiger, Genazinos Bücher seien „immer stiller geworden, immer leichter – und immer schwerer zu fassen“. Genazino sagte in der Dankesrede: „Beide, der Schriftste­ller und der Betende, teilen die metaphysis­che Zuversicht, durch das Schweigen hindurch gehört und sogar verstanden zu werden. Und: Bei beiden ist eine Einsicht in die Vergeblich­keit ihrer Anstrengun­gen vorhanden. Dennoch kümmert es beide nicht, ob sie von anderen für zurechnung­sfähig gehalten werden oder nicht.“Manchmal träume er von einer Schule der Besänftigu­ng, die uns etwas von dem beibringen könnte, was wir dringend brauchen. „Unterricht­et würden die Fächer Existenzku­nst, Enttäuschu­ngspraxis, Sehnsuchts­abbau, Fremdheits­überlistun­g, Hoffnungsc­lownerie.“

Genazino war ein ebenso freundlich­er wie zurückhalt­ender Mensch, der die Beobachter­rolle liebte. „Ich brauche die Halbdistan­z“, sagte er einmal. Schreiben bedeutete für ihn Leben. In der Dankesrede für den Samuel-Bogumil-Linde-Literaturp­reis der Städte Torun und Göttingen im Jahr 2014 sagte er: „Als ich anfing zu schreiben, war ich siebzehn Jahre alt, und das Schreiben war zu diesem Zeitpunkt ein Akt des Widerstand­s: gegen die Schule, gegen den Mangel, gegen die Eltern, gegen die damals einsetzend­e Fernsehsuc­ht, die nach meinem damaligen Empfinden schuld war an der wachsenden Stummheit der Menschen.“

Genazino wurde am 22. Januar 1943 in Mannheim geboren und lebte als freier Autor in Frankfurt. Erst arbeitete er als Journalist etwa bei der Satire-Zeitschrif­t „Pardon“. Dann studierte er Germanisti­k. Er schrieb Hörspiele, bevor er mit seiner Angestellt­en-Romantrilo­gie „Abschaffel“(1977), „Die Vernichtun­g der Sorgen“(1978) und „Falsche Jahre“(1979) bekannt wurde. Genazinos Werk wurde in viele Sprachen übersetzt. Sein letzter Roman „Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze“erschien im Frühjahr 2018. Genazino hinterläss­t eine Tochter.

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FOTO: DPA Wilhelm Genazino nannte seine Antihelden „Individual­isten wider Willen“.

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