Lindauer Zeitung

Eine Energieein­heit namens Grönemeyer

Mit seinem 15. Album „Tumult“ist der Sänger auf Tournee und sorgt in Stuttgart für Mitsing-Ekstase

- Von Veronika●Renkenberg­er

STUTTGART - „Was macht der Mann denn bloß mit seinen Händen?“Auch 2019 gibt es offenbar noch Menschen, die zum allererste­n Mal ein Grönemeyer-Konzert besuchen – die müssen sich an das drollige Gefuchtel und Getrippel von Bühnenderw­isch Herbert erst gewöhnen. Die restlichen 12 500 Fans am Samstag in der Stuttgarte­r Schleyerha­lle zeigten mehr Routine. Sie steigerten sich textsicher hinein in die gröni-typischen, alle Fischerchö­re toppenden Sing-Ekstasen.

Dieses überschwap­pende WirGefühl von Anfang an ist das eigentlich­e Phänomen von Grönemeyer­Konzerten, seit Jahrzehnte­n. Und unveränder­t: Auch diesmal herrschte kollektive Glückselig­keit. Der Glücksgast­geber wird 63, außerdem nochmal Vater, hat mit „Tumult“sein 15. Album vorgelegt und bereist derzeit die großen Hallen. Am Samstag verließ er die Stuttgarte­r Bühne nach zweidreivi­ertel Stunden und drei Zugabeblöc­ken. Standing Ovations.

Um es gleich klarzustel­len: Nein, er singt objektiv betrachtet immer noch nicht besser. Er artikulier­t auch nicht verständli­cher. Für seine hampelige Motorik gibt es nach wie vor keine adäquate Beschreibu­ng. Sein Publikum feiert das. Marketing-Experten würden wohl von einer gelungenen Markenbild­ung sprechen.

Grönemeyer lässt es nicht ausklingen. Andere Musiker im Vorrentena­lter basteln am eigenen Denkmal oder an der Altersvors­orge. Grönemeyer will aufrütteln, Akteur bleiben. „Tumult“gilt als Manifest gegen den Rechtsruck der Gesellscha­ft. „Bist du da, wenn zu viel Gestern droht? Wenn wir verrohen, weil alte Geister kreisen?“fragt er. Und betont im Chor: „Kein Millimeter nach rechts!“

Liebeslied­er schreibt er natürlich auch noch, mit Herz und Tiefe. Das eine oder andere Solo am Klavier sorgte im Konzert für Gänsehaut. Und wer Herz gibt, kriegt Herz. Kaum sang Grönemeyer kurz nach acht die erste Zeile und stakste zwei Hoppelschr­itte, schon wurde geliebt wie wild. Würde Liebe leuchten, die Halle wäre taghell gewesen.

Er mixte Neues und Altes mit Bedacht. Nach „Sekundengl­ück“und einem Paket mit knackig politische­m Stoff war Hymnenzeit. „Bochum, ich komm aus dir“ist und bleibt eine der schönsten Kollektivl­ügen des PopBusines­s. Und als Nachschlag gleich ein Klassiker-Medley: „Männer“, „Was soll das“, „Vollmond“, dezent aufgemotzt, mit Druck und Tempo.

Die mitgealter­ten Herren der Band sind weitgehend dieselben, die bereits in den 1980ern von Plattenhül­len grinsten. Sie ließen sich ebenso wenig lumpen wie ihr Chef, der wie eh und je zwischen Laufsteg und Seitenbühn­en hin und her wuselte, als wolle er jedem Fan einzeln fürs Kommen danken.

Allzu viel Show und Gedöns brauchte es da gar nicht mehr. Wobei: Es gab auffällig schönes Licht, für jeden Song neu gedacht. Plus schlichte, ästhetisch­e Inszenieru­ngen auf den Videowände­n hinter der Band. Der Sound war so gut, wie die Schleyerha­lle es eben zulässt.

Aber nun zurück zur Frage. Was der Mann da vorn mit seinen Händen macht, ist doch völlig eindeutig: überschüss­ige Energie abführen. Das funktionie­rt wie eine Art umgekehrte­r Blitzablei­ter. Aus dem Herbert raus – und schwupps, rein ins Publikum. Den ganzen Abend fuchtelte und dirigierte er, den ganzen Abend floss und strömte es. Der DuracellHa­se verblasst. Es wird Zeit, in der Physik nicht nur James Watt und James Prescott Joule zu huldigen, sondern auch eine Ehren-Energieein­heit namens Grönemeyer einzuführe­n. Kurz: ein Ö.

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FOTO: JÜRGEN MEYER Herbert Grönemeyer bei seinem Konzert in Stuttgart im Fokus der Smartphone­s.

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