Das Leben einer IS-Familie
Der Kinofilm „Of Fathers and Sons – die Kinder des Kalifats“zeigt, wie Söhne zu Gotteskriegern erzogen werden
Irgendwann, eigentlich schon nach ein paar Minuten, fällt es auf: keine Frauen. Eigentlich eine ganz normale Familie, ein liebevoller, sorgender Vater, Kinder wuseln herum, aber der Zuschauer sieht keine Frauen. Sie durften nicht gefilmt werden. Denn wir befinden uns im salafistischen Nordwesten Syriens, und die Familie um Clan-Chef Abu Osama, ein dicklicher Mittvierziger, gehört dem IS an und erzieht schon ihre Kleinkinder im gewalttätigen Geist der Terrororganisation. Abu Osama ist zudem ein herausragender Repräsentant des sogenannten Islamischen Staats, ein hochrangiger Führer der Al-Nusra-Brigaden, die eine unrühmliche Rolle im Syrienkrieg spielen.
Eine fanatische Truppe, die laufend Nachwuchs benötigt. Und so werden Ayman (12) und Osama (13) zu Kämpfern erzogen. Sie tragen die Namen des Gründers von Al-Kaida, Osama bin Laden, und dessen Stellvertreters Ayman Al-Zawahiri. Sie leben mitten im Krieg vor ihrer Haustür, lernen den Bau von Bomben, den Umgang mit Gewehren, und vor allem erlernen sie den Hass, der ihr Leben beherrscht.
Ein Film mit einer besonderen Geschichte, und ein Film, der, wenn er jetzt in die Kinos kommt, schon ein historisches Dokument ist. Denn als Regisseur Talal Derki („Rückkehr nach Homs“) die Familie Osama über einen Zeitraum von zwei Jahren (Sommer 2014 bis September 2016) begleitet hat, stand der IS noch in voller Blüte, galt er als die große Gefahr des Nahen und Mittleren Ostens, als eine der Bedrohungen der zivilisierten Welt. Heute liegt diese Welt im Staub, ist der IS zwar nicht besiegt, aber zurückgedrängt. Und der Film hat eine Nachgeschichte: Familienvater Abu Osama starb im Oktober 2018 beim Entschärfen einer Autobombe. Er hinterließ zwei Ehefrauen und zwölf Kinder.
Talal Derki, gebürtiger Syrer, und sein Kameramann Kahtan Hasson haben diese Familie ganz intim bis in die Wohnung hinein begleiten dürfen. Derki, selbst Atheist, gab sich als Anhänger der fundamentalistischen Salafisten aus, um ihr Vertrauen zu gewinnen, betete mit ihnen, nahm Kompromisse in Kauf wie eben den, keine Frauen zu zeigen. Im Mittelpunkt stehen zwei halbwüchsige Söhne, die nicht wie andere Kinder dieses Alters spielen oder in der Schule lernen, sondern für die die radikale Gewalt Teil ihres Alltags ist.
Als ihr Vater beim Bombenentschärfen einen Unfall hat und einen Fuß verliert, schickt er den älteren Ayhan in ein Scharia-Camp – auch dort durften Derki und Hasson die Ausbildung zum Gotteskrieger filmen. Ihr Projekt war eine Kraftprobe und ein großes Risiko – wären sie aufgeflogen, hätten sie sich in unmittelbarer Lebensgefahr befunden. Eingreifen war nicht möglich. Und es war für Regisseur und Kameramann eine erhebliche psychische Belastung, wenn sie unmittelbar an Gewalttaten oder Gefechten, auch an den seelischen und körperlichen Misshandlungen von Kindersoldaten teilnehmen mussten, ohne Empathie zeigen zu dürfen. Da stößt teilhabendes Kino wohl an seine Grenzen.
Faszinierende Dokumentation
Eine faszinierende Dokumentation, die die Menschen hinter den täglichen Nachrichten, hinter den abstrakten Meldungen vom fernen Krieg in Syrien betrachtet. Ein erschreckendes Bild – und ein Blick in eine Welt, die, so fern sie in mehrfacher Hinsicht ist, mit uns zu tun hat. Denn auch die Opfer dieser Terrorfamilie sind Muslime, normale Syrer, die vor den Bomben, den Attentaten, dem Krieg fliehen. Und eine Auseinandersetzung mit unseren moralischen Standards: Muss man Mitleid empfinden, wenn sich ein Terrorist wie Abu Osama schwer verletzt vor Schmerzen windet, weil er nicht behandelt wird?
„Of Fathers and Sons“hatte seine Premiere Ende 2017 beim Filmfestival Amsterdam und lief danach bei mehr als 100 bedeutenden Festivals wie Sundance oder München. Der vom SWR co-produzierte Film stand vor wenigen Wochen im Rennen um den Oscar in der Kategorie „Dokumentarfilm“, verlor dort aber gegen einen Film über einen Extrembergsteiger; eine krasse Fehlentscheidung der Academy. Für den Europäischen Filmpreis war er, für den Deutschen Filmpreis ist er noch nominiert.
„Of Fathers and Sons – Die Kinder des Kalifats“, Deutschland, Syrien, Libanon, Katar 2017, Regie: Talal Derki, 99 Minuten, FSK: ab 12