„Euthanasie“forderte weitere Opfer
Im Bodenseekreis gab es mehr Ermordete als angenommen – Forschungen kommen voran
FRIEDRICHSHAFEN - Ein Forschungsprojekt arbeitet die Lebensläufe der Opfer der NS-„Euthanasie“im Bodenseekreis auf. Seitdem die „Schwäbische Zeitung“im Juli 2018 erstmals darüber berichtete, stellte sich heraus, dass die Zahl der Opfer höher ist als zunächst angenommen. Die Lebensgeschichten der Ermordeten liegen aber oft noch im Dunkeln.
90 Menschen aus dem Bodenseekreis sind dem „Euthanasie“Programm der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen. Von dieser Zahl ging Paul-Otto Schmidt-Michel noch im Juli 2018 aus. Damals rief der Ärztliche Direktor a.D des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg/Weißenau das Projekt NS-„Euthanasie“ins Leben, in Zusammenarbeit mit dem Landratsamt. Was man von den Opfern weiß, beschränkt sich oft auf die Einträge in den Krankenakten sofern sie überhaupt erhalten sind. Das Projekt hat das Ziel, den Ermordeten ihre Individualität zurückzugeben. Sie sollen als Menschen plastisch werden, ihre Lebensgeschichten zurückbekommen. Inzwischen steht fest: Es geht um mehr als 90 Menschen. Die Opferzahlen im Bodenseekreis sind höher. Im Zuge der Recherchen konnten 25 weitere psychisch Erkrankte oder geistig Behinderte ermittelt werden, die ermordet wurden. Hinzu kommen 51 Bürger, bei denen der Bezug zum Bodenseekreis aber noch fraglich ist.
Das Kreiskulturamt hat eine Arbeitsgruppe mit acht Mitgliedern gebildet, die die „Euthanasie“-Geschichte aufarbeitet. Besetzt ist sie mit Mitgliedern des Kreiskulturamts und externen Historikern. Die Namen der zusätzlichen Opfer wurden nicht nur gefunden, weil mit diesem Mitarbeiterstab eine genauere Recherche möglich ist – sondern auch, weil das Raster der Suche verändert wurde. Alle 90 Opfer, die bis Juli 2018 feststanden, lebten im Bodenseekreis, ehe sie in psychiatrische Anstal- ten eingewiesen und schließlich zumeist in der Tötungsanstalt Grafeneck ermordet wurden. Seither konzentrierte sich die Suche aber auch auf Menschen, die im Bodenseekreis geboren wurden, später jedoch in andere Regionen gezogen sind und in anderen Anstalten ermordet wurden. Hierbei handelt es sich um die besagten 51 Opfer mit unsicherem Bezug zum Bodenseekreis. Unsicher, weil die Wohn- und Geburtsorte der Ermordeten, die in den Datenbanken der Gedenkstätten erfasst sind, oft nicht eindeutig sind. „Wir haben etwa mehrere Opfer, die aus Oberdorf stammen. Den Ortsnamen Oberdorf gibt es aber öfter“, erklärt der Historiker und Projekt-Koordinator Nils Bambusch.
Die „Schwäbische Zeitung“hat im Juli ihre Leser dazu aufgerufen, sich an dem Projekt zu beteiligen. Das Landratsamt hatte die Namen der bis dahin bekannten Opfer und alle greifbaren Lebensdaten auf seiner Homepage veröffentlicht. Nun hoffte man auf Anrufe und Zuschriften von Menschen aus dem Bodenseekreis, die über die Ermordeten Näheres wissen. Bisher gab es ergänzende Hinweise, aber vor allem offene Fragen. „Bislang haben sich vier Nachfahren von Opfern gemeldet“, sagt SchmidtMichel. „Sie hatten selbst schon mal zu recherchieren begonnen, kamen aber nicht weiter. Da konnten wir mit Informationen helfen“.
Anlaufstelle für Fragen
Das „Euthanasie“-Projekt profitiert also bislang wenig von Informationen aus der Bevölkerung, sondern ist eher umgekehrt eine Anlaufstelle für Fragen. Aber auch in dieser Funktion ist dieses Projekt sinnvoll. Denn wenn eine Familie ein behindertes Mitglied durch „Euthanasie“verlor, wissen die Nachfahren davon heute nur noch wenig Konkretes. Auch, weil die Hinterbliebenen nach dem Krieg oft darüber geschwiegen haben. „Die Menschen heute haben nur kolportierte Geschichten. Sie sind mit ihnen allein und wissen nicht, wie sie damit umgehen sollen“, sagt Schmidt-Michel. Nils Bambusch fügt an: „Viele wissen wohl gar nicht, dass sie Angehörige hatten, die ermordet wurden“.
Rund 70 000 Menschen fielen der „Euthanasie“-Aktion „T4“in den Tötungsanstalten zum Opfer. Schließt man die dezentrale „Euthanasie“mit ein, also die Erschießungen und Vergasungen von Kranken im Vernichtungskrieg in Polen und der Sowjetunion, waren es rund 300 000 Opfer. Von den Krankenakten der besagten 70 000 Opfer, die in den Heilanstalten verfasst wurden, existieren heute nur noch 30 000, die im Bundesarchiv in Berlin lagern. Auch von vielen Opfern aus dem Bodenseekreis fehlen die Krankenakten als Auskunftsquellen. Freilich sind es Quellen, die mit Vorsicht zu genießen sind, warnt Nils Bambusch.
Zweifelhafte Diagnosen
Bambusch ist einer der Projektmitarbeiter, die Lebensberichte über die Ermordeten schreiben. Sie sollen auf der Homepage des Landratsamts veröffentlicht werden. „Die Diagnosen in den Krankenakten können stigmatisierend wirken. Sie müssen auch nicht richtig sein. Und es kann sein, dass die Krankheitsbilder durch den Aufenthalt in der Heilanstalt erst hervorgerufen wurden“, fasst er zusammen. Die Arbeitsgruppe hat daher Richtlinien zur Verschriftlichung der Opfer-Lebensgeschichten erarbeitet. Auf eine Nennung der Diagnosen wird beispielsweise verzichtet. Stigmatisierend wirkt auch die psychiatrische Ausdrucksweise in den Krankenakten. „Darin werden die Betroffenen öfter als läppisch oder idiotisch bezeichnet“, sagt Bambusch. „Das war damals umgangssprachlich gebräuchlich, ist heute aber negativ konnotiert.“Wegen dieser Fallstricke bietet Paul-Otto Schmidt-Michel den Nachfahren von Opfern an, die Akten mit ihnen durchzugehen und sie zu erläutern. Woran es dem Projekt nach wie vor fehlt, sind Überlieferungen, aus denen die Opfer Konturen gewinnen. „Es ist schwer, überhaupt noch jemanden zu finden, der ein Opfer persönlich kannte“, sagt Nils Bambusch. Bei den Nachfahren ist der Bezug zu den Opfern in der Regel ein indirekter, denn die Ermordeten waren in der Regel alleinstehend und blieben kinderlos: „Sie hatten typischerweise eine geistige Behinderung oder eine Psychose. Psychosen treten ab dem 20. Lebensjahr auf, so dass es nicht zur Heirat kam“, erklärt Schmidt-Michel. Je weiter sich die Verwandtschaftsbezüge zu den „Euthanasie“-Opfern aber entfernen, desto größer ist auch die Gefahr, dass die Ermordeten zur Leerstelle werden. Um das zu verhindern, bittet das Projekt „Euthanasie“im Bodenseekreis weiterhin um aktive Unterstützung. Die Daten der „Euthanasie“-Opfer aus dem Bodenseekreis finden sich im Internet unter
●» www.bodenseekreis.de/bildung-kultur/gedenkbuch-nseuthanasie Wer etwas über das Leben der Ermordeten beitragen kann, wird gebeten, sich beim Forschungsleiter Prof. Dr. Paul-Otto Schmidt-Michel zu melden unter Telefon 0171 / 339 03 02 oder per E-Mail an ●» schmidtmichel@gmx.de