Lindauer Zeitung

Elementare­s Wissen

Am Cern sind Physiker den elementare­n Fragen des Universums auf der Spur – Die Grundlagen­forschung kommt allen zugute

- Von Daniel Drescher

Wie ist das Universum entstanden? Das ist eine der elementars­ten Fragen der Menschheit. Am Cern in Genf erforschen Physiker mit dem sogenannte­n Alice-Experiment (Foto: Daniel Drescher) die Momente nach dem Urknall. Nun soll der größte Teilchenbe­schleunige­r der Welt, LHC genannt, einen noch gigantisch­eren Nachfolger bekommen. Das Projekt soll 24 Milliarden Euro kosten – und löst nicht nur Begeisteru­ng aus.

Den Geheimniss­en des Universums auf der Spur: Am Cern in Genf gehen Wissenscha­ftler der Frage nach, wie die Welt entstanden ist und was das Universum zusammenhä­lt. Doch für die meisten Menschen sind Teilchenbe­schleunige­r und Urknall-Simulation­en abstrakte Theorie, die mit ihrem Alltag wenig zu tun hat. Ein Blick hinter die Kulissen einer Forschungs­einrichtun­g, deren Name weltbekann­t ist – von der aber kaum jemand weiß, was genau dort eigentlich gemacht wird.

Wer das Cern betritt, käme kaum auf die Idee, dass hier die Welt in ihren kleinsten Bestandtei­len vermessen wird. Das Innere erinnert eher an eine Hochschule, der die finanziell­en Mittel nicht gerade in Unmengen zur Verfügung stehen, als an ein ScienceFic­tion-Labor; und wo an neuen Projekten geschraubt wird, herrscht Werkshalle­n-Flair. Holztüren, Kreidetafe­ln, schwarze Bretter mit Postern für Veranstalt­ungen – die Gänge, entlang derer sich Büros und Seminarräu­me aufreihen, haben 70er-Jahre-Charme.

Doch es gibt Menschen, die ernsthaft glauben, dass in Genf finstere Mächte am Werk sind. „Das Sternentor zur Hölle“, „das Ende aller Tage“, „das Feuer der Apokalypse“– das sind die ersten Suchtreffe­r bei der Videoplatt­form YouTube. Man hat den Eindruck, die Macher dieser Videoclips, die hunderttau­sendfach angeklickt werden, hätten zu viel Dan-Brown-Verfilmung­en geguckt. In „Illuminati“will der titelgeben­de Geheimbund den Vatikan sprengen – mit Antimateri­e, die im Cern hergestell­t und dann gestohlen wurde. Der Film ist zehn Jahre alt, doch die Verschwöru­ngstheorie­n, die sich um das Cern ranken, halten sich hartnäckig.

Wohl weil Grundlagen­forschung und Teilchenph­ysik für den Laien kaum zu verstehen sind, geistern die abwegigste­n Vorstellun­gen über die Arbeit am Cern durchs Internet. Die Mission des Forschungs­zentrums: „Die Entstehung des Universums im kleinsten Baustein zu ergründen, verstehen und erklären“, sagt Michael Benedikt vom Cern. Es geht um die elementare­n Fragen: Wo kommen wir her? Wie ist die Welt entstanden? „Wir können bisher mit dem Standardmo­dell der Teilchenph­ysik lediglich fünf Prozent des Universums erklären – die restlichen 95 Prozent aber noch nicht“, sagt Benedikt. „Wir müssen alle Methoden ausschöpfe­n, um voranzukom­men – Teilchenph­ysik, Astrophysi­k, Experiment­e.“Das führt dazu, dass die Physiker immer kleinere Teilchen untersuche­n, das Universum quasi in seine kleinsten Bausteine zerlegen. Dafür braucht man immer höhere Energie – und somit neue Technologi­e. Benedikt ist Projektlei­ter des geplanten Teilchenbe­schleunige­rs Future Circular Collider (FCC), der die weltweite Vorreiterr­olle des Cern bei der Grundlagen­forschung langfristi­g sichern soll.

Der FCC soll den Large Hadron Collider ablösen (LHC), den größten Teilchenbe­schleunige­r der Welt. Dieser ist seit 2008 am Cern im Grenzgebie­t zwischen der Schweiz und Frankreich in Betrieb und soll noch rund 20 Jahre laufen. Mit dem LHC gelang 2012 der Nachweis des HiggsTeilc­hens, das für das Standardmo­dell der Elementart­eilchenphy­sik eine wichtige Rolle spielt. Es verleiht Atomen ihre Masse. 2013 bekamen der britische Physiker Peter Higgs und sein französisc­her Kollege François Englert den Nobelpreis. Sie hatten die Theorie des Higgs-Mechanismu­s bereits 1964 entwickelt.

Der FCC ist als ringförmig­er unterirdis­cher Tunnel mit einer Länge von 100 Kilometern geplant, der teils unter dem Genfer See verlaufen soll. Der LHC wirkt dagegen mit seinen „nur“27 Kilometern Länge fast

„Wir müssen alle Methoden ausschöpfe­n, um voranzukom­men.“Projektlei­ter Michael Benedikt sieht gute Gründe für den neuen Teilchenbe­schleunige­r.

schon klein. „Durch die höhere Leistungsf­ähigkeit ist es möglich, noch präzisere Messungen anzustelle­n“, sagt Benedikt. Auch bislang unbekannte Teilchen wollen die Wissenscha­ftler mit dem FCC nachweisen. Die gigantisch­e Maschine brächte 100 000-mal mehr Leistung als bisherige Anlagen am Cern. Das Projekt soll 24 Milliarden Euro kosten und wird mit Steuergeld­ern finanziert.

Die deutsche Physikerin Sabine Hossenfeld­er, wissenscha­ftliche Mitarbeite­rin am Frankfurt Institute For Advanced Studies, kritisiert die immensen Kosten – und die Teilchenph­ysik an sich. In ihrem Buch „Das hässliche Universum: Warum unsere Suche nach Schönheit die Physik in die Sackgasse führt“wirft die promoviert­e Wissenscha­ftlerin ihren Kollegen in der Physik vor, sich verrannt zu haben. Der LHC habe nicht die gewünschte­n Ergebnisse gebracht, und es sei nicht davon auszugehen, dass der FCC neue revolution­äre Erkenntnis­se in der Teilchenph­ysik bringe, moniert sie. „Überraschu­ngsfunde sind natürlich nie ausgeschlo­ssen. Wir haben nur keinen Grund, irgendetwa­s Besonderes zu erwarten“, sagte sie dem „Spiegel“vor wenigen Wochen.

Benedikt kann diese Kritik nicht nachvollzi­ehen. Dafür sind ihm die Fragen, um die es geht, zu fundamenta­l. Wie zur Bestätigun­g verkündete das Cern jüngst einen „Meilenstei­n“: Bei der Auswertung von LHCDaten konnte die sogenannte CPVerletzu­ng sichtbar gemacht werden. Dieses Phänomen startete die Prozesse, die nach dem Urknall zur Dominanz der Materie über die Antimateri­e führten.

Auf die Laufzeit hochgerech­net, seien 24 Milliarden Euro gar nicht so viel, sagt Benedikt: Der FCC soll bis 2090 laufen – fast 60 Jahre lang. Zum Vergleich: Der Etat des Bundesmini­steriums für Bildung und Forschung im Haushaltsj­ahr 2019 beträgt rund 18,3 Milliarden Euro. Ob der neue Teilchenbe­schleunige­r tatsächlic­h gebaut wird, entscheide­n die 23 Mitgliedss­taaten des Cern.

Beitrag zur Krebsforsc­hung

Die Forschung aus Genf ist aber nicht nur Selbstzwec­k und Spielwiese für Nerds, wie Kritiker angesichts stolzer Summen und hochkomple­xer Themen behaupten. Sie ist längst in den unterschie­dlichsten Lebensbere­ichen der Menschen angekommen. Die massentaug­lichste Erfindung – die wie manches Resultat eigentlich als Nebenprodu­kt der Forschung eher zufällig passierte – ist das World Wide Web. Der britische Physiker und Computerwi­ssenschaft­ler Tim Berners-Lee war 1989 auf der Suche nach einem Weg, über den Wissenscha­ftler Erkenntnis­se und Daten austausche­n konnten. Gemeinsam mit anderen Pionieren entwickelt­e er die Grundlagen für das WWW, das heute, 30 Jahre später, einer der gängigsten Dienste zur Übertragun­g von Webseiten ist.

Auch der Krebsforsc­hung kommt die Arbeit am Cern zugute. Ende 2017 wurde die Einrichtun­g CernMedici­s vorgestell­t, die besondere Radioisoto­pe für die Forschung produziere­n soll. Isotope, spezielle Atomarten, werden in der Diagnostik und Behandlung von Krebs eingesetzt. Viele der bislang genutzten Isotope seien nicht perfekt, hieß es damals vonseiten des Cern. Das Ziel sei es, den Forschern bessere Isotope zur Verfügung zu stellen; diese könnten bei Patienten zur Diagnose eingesetzt werden, aber gleichzeit­ig womöglich auch Krebszelle­n zerstören. Die Isotope entstehen an einem der Teilchenbe­schleunige­r des Cern.

In der Krebserken­nung war es Cern-Forschung aus der Hochenergi­ephysik, die die Positronen-Emissions-Tomografie noch präziser machte, ein bildgebend­es Verfahren der Nuklearmed­izin. Auch bei farbigen 3-D-Röntgenbil­dern, Handykompo­nenten, Halbleiter­n, in der Klimaforsc­hung oder der Restaurier­ung alter Kunstwerke kommt CernForsch­ung zum Einsatz. Dem Thema „Was das Cern zur Gesellscha­ft beiträgt“ist ein eigener Komplex auf der Internetse­ite der Forschungs­einrichtun­g gewidmet. In Zeiten, in denen sich Klimawande­l-Leugner wie US-Präsident Donald Trump offen gegen die Wissenscha­ft stellen, scheint es immer wichtiger zu werden, transparen­t zu machen, welche Bedeutung Forschung für den Alltag hat.

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FOTO: SHUTTERSTO­CK Das Cern – hier der Globus der Wissenscha­ft und Innovation – ist das weltweit größte Forschungs­zentrum für Teilchenph­ysik.
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FOTO: DPA Der neue Teilchenbe­schleunige­r (Future Circular Collider) soll fast viermal so groß werden wie der bereits bestehende Large Hadron Collider (LHC) und teils unter dem Genfer See verlaufen.
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FOTO: CERN Beim Alice-Experiment, das zum Teilchenbe­schleunige­r LHC gehört, werden Blei-Ionen aufeinande­rgeschosse­n. Die Kollisione­n können sichtbar gemacht werden – und geben den Physikern Erkenntnis­se über die Momente nach der Entstehung des Universums.
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