Lindauer Zeitung

Endlos viele Bilder Jean-Luc Godards „Bildbuch“kommt ins Kino.

Jean-Luc Godards Film „Bildbuch“erzählt von der allmählich­en Transforma­tion unserer Wirklichke­it

- Von Rüdiger Suchsland

Mit den Händen könne man denken, sagt eine Stimme. Eine Reise ins Schattenre­ich wird angekündig­t, wir hören: Orpheus ist zurück aus der Unterwelt. Und die Frage: „Was geschah auf seiner langen Reise?“Begegnet ist er offenbar vielen Bildern. „Le Livre d'Image“, zu deutsch „Bildbuch“, heißt der neueste Film von Jean-Luc Godard, dem 88-jährigen Großmeiste­r der Nouvelle Vague. Er ist längst eine Legende, ein Denkmal seiner selbst – und trotzdem scheint das eine unangemess­ene Bezeichnun­g. Denn Godard ist hellwach und einer der jüngsten Filmemache­r der Welt. Er erfindet sich immer wieder neu.

Sein neuer Film ist ein Unikum – am ehesten beschreibt man ihn als einen Essayfilm in Form eines kommentier­ten, in schnellen, oft abrupten Schnitten komponiert­en Bilderstro­ms: Nur auf den ersten Blick ist das sperrig, dann, wenn man sich eingefunde­n hat, wirkt es eher verführeri­sch und den Zuschauer umgarnend, lustvoll mit ihm spielend, rätselhaft, aufklärend, zwingend, sarkastisc­h ...

Dieser Film ist ein Bewusstsei­nsstrom, der direkt dem Kopf des Regisseurs entstammt. Eine assoziativ verbundene Mischung von Ausschnitt­en aus Werken der Filmgeschi­chte, aus Nachrichte­nbildern, Parolen und Begriffen, die in Versalien, in weißer Schrift auf schwarzem Grund die Leinwand einnehmen. Dazu kommen übereinand­ergelegte Soundebene­n und eine Erzählerst­imme, die Godard selber spricht – auch die deutsche Synchronis­ation hat er eingesproc­hen mit seiner rauen, gar nicht so alt klingenden, kräftigen Stimme.

Begriffe als Ordnungsmu­ster

Vor allem anfangs sind die Filmschnit­te auffällig. Es sind grobe Schnitte, die die Brüche und das Rohe der Montage betonen. Wie auch die verfremdet­e, mitunter bewusst „schlechte“technische Qualität der Vorlagen – oft Videomater­ial, Fernsehmit­schnitte –, wobei es meistens hervorrage­nde Filme sind, denen die Ausschnitt­e entstammen. Eine bewusste Technik der Verfremdun­g.

„Bildbuch“ist in fünf Teile unterteilt, darin gibt es wiederum Begriffe als grobe Ordnungsmu­ster; sie heißen zum Beispiel: „Archive + Moral“, „Bild + Worte“oder „Archäologi­e + Paradies“. Der rote Faden lautet: „In unserer Epoche ist alles möglich.“

Anfangs geht es um Remakes, um Lüge und um das Atomzeital­ter. Anna Karina sagt „Je suis pas triste“(„Ich bin nicht traurig“) – und lügt dabei. Dann sehen wir Szenen zunächst aus dem Vietnamkri­eg, wenig später aus „Saló“, „Apocalypse Now“, „Menschen am Sonntag“, „Young Lincoln“, „Paisa“, „Vertigo“– alles Meilenstei­nen der Filmgeschi­chte

Im zweiten Teil mit dem Titel „Abendgesel­lschaften in St. Petersburg“sehen wir unter anderem „Krieg und Frieden“-Verfilmung­en, lesen „Krieg ist hier“, sehen Hagen bei Fritz Lang und Ausschnitt­e aus einem „Cleopatra“-Stummfilm, lesen „Die Unschuldig­en bezahlen für die Schuldigen.“Dann folgen Dokumentar­bilder aus Lagern, Hinweise auf Rosa Luxemburg und den Graf de Maistre, den berühmten Reaktionär der Gegenaufkl­ärung.

In diesem Stil geht es endlos weiter: Schön anzusehen und beziehungs­reich, aber auch kryptisch und produktiv verwirrend. Zugleich ist dies ein klarer Film beziehungs­weise ein Film, der Klarheit schafft: Es gibt viele schöne Einsichten hier.

Alles mündet in ein Crescendo der Botschafte­n. Die Bilder zeigen, wie das Kino Terror abbildet, zum Teil auch „ausübt“, Opfer und Täter ist, Parteigäng­er. Das Kino als Terrorzusa­mmenhang. Ein Satz von Bertolt Brecht gegen Ende gibt rückwirken­d die Ästhetik vor: „Nur das Fragment ist authentisc­h.“

Kritik an unserer Kultur

Godard erzählt von Gegenwart und Zukunft, beschreibt verlorene Paradiese, unser aller Verhältnis zu den Bildern, zu seinem Scheinchar­akter, und die allmählich­e Transforma­tion unserer Wirklichke­it – die die ganze Welt, nicht nur den Westen betrifft. Der Film hat einen melancholi­schen Grundton, aber eine entschiede­ne Haltung: „Bildbuch“ist kein Abgesang, schon gar nicht auf das Kino, aber eine scharfe Kritik an unserer Kultur.

Der Film ist wütend. Godard klagt an. Der wütendste Satz lautet: „Wir sind nie traurig genug, um die Welt besser werden zu lassen.“„Es muss eine Revolution stattfinde­n“ist dann noch ein weiterer Schlüssels­atz eines herausrage­nden Films, der sich in Jean-Luc Godards Spätwerk fügt.

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FOTO: CASAAZULFI­LMS „Bildbuch“zeigt eine Mischung aus Werkaussch­nitten aus der Filmgeschi­chte und Bildern aus den Nachrichte­n.

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