Versöhner
Vor ein paar Monaten kannten nur Wähler in einem Istanbuler Vorort seinen Namen. Doch seit Sonntag ist Ekrem Imamoglu, Bürgermeisterkandidat der Opposition in Istanbul, der Hoffnungsträger vieler türkischer Regierungsgegner. Imamoglu – sein Name bedeutet „Sohn des Imams“– ist Mitglied der säkularistischen Partei CHP, doch er spricht auch islamisch-konservative Wähler an. Während Präsident Recep Tayyip Erdogan spaltet, tritt Imamoglu als Versöhner auf. Damit trifft er den Nerv vieler Türken, die der Polarisierung durch die ErdoganPartei AKP müde sind.
Nach den Worten des türkischen Wahlleiters Sadi Güven lag Imamoglu bei der Istanbuler Bürgermeisterwahl nach Auszählung fast aller Wahlurnen am Montag knapp 30 000 Stimmen vor seinem AKP-Konkurrenten Binali Yildirim. Das endgültige Wahlergebnis wird wohl erst nach Prüfung erwarteter Einsprüche feststehen. Aber Imamoglu gilt schon jetzt als eigentlicher Gewinner.
Mit seinen 49 Jahren gehört der dreifache Familienvater einer jüngeren Politiker-Generation an, die sich anschickt, den 65-jährigen Erdogan, den 63jährigen Yildirim und deren Altersgenossen abzulösen. Vor fünf Jahren wurde Imamoglu für die CHP zum Bürgermeister von Beylikdüzü gewählt, einem bürgerlichen Vorort am westlichen Stadtrand der 15-Millionen-Metropole Istanbul.
Vom Stil her könnten Imamoglu und Erdogan nicht verschiedener sein. Der Staatspräsident beschimpft seine Gegner als Terroristen und Landesverräter. Imamoglu dagegen rief seine Anhänger selbst in der Hektik des Wahlabends auf, der politischen Konkurrenz höflich und „mit einem Lächeln“entgegenzutreten.
Imamoglus sanftes Auftreten ist kein Zeichen mangelnder Entschlossenheit. Immer wieder kritisierte er am Wahlabend die regierungstreuen Medien, die seinen Stimmenanteil konsequent niedriger anzeigten, als er in Wirklichkeit war.
Viele Oppositionsanhänger hoffen nun, dass Imamoglu die verknöcherte CHP auf Landesebene auf Vordermann bringen kann. Der „Sohn des Imams“ist der Mann der Stunde in der Türkei. Susanne Güsten