Der Normalbürger stirbt aus
Die Politik steht vor der Herausforderung, auch in Zeiten der Digitalisierung Wohlstand zu schaffen
BERLIN - Viele spüren es, und die Betroffenen haben Angst. Die deutsche Mittelschicht schrumpft. „Während sich die Gehälter in deutschen Vorstandsetagen zwischen 2000 und 2010 mehr als verdoppelten, lebt der Großteil der Arbeitnehmer inzwischen von der Hand in den Mund“, schreibt Daniel Goffart. Der Rechtsanwalt und Journalist ist kein Linker, sondern er hat sich seit Jahren mit der deutschen Wirtschaft beschäftigt. Seine Diagnose alarmiert: Die Normalität als Fundament des Mittelstands bröckele. „Zu verschwinden drohen die Normalarbeitsverhältnisse, die Normalbürger, die Normalbiografien, der Normalarbeitstag und der als Ottonormalbürger bezeichnete Durchschnittskonsument.“Stattdessen nehmen atypische Beschäftigungsverhältnisse zu, in denen schon 7,7 Millionen Menschen arbeiten. Und die Digitalisierung werde die Entwicklung zur armen, neuen Mittelschicht noch einmal radikal beschleunigen.
Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) kennt die Probleme genau. „Wir reden über eine absolut rasante Entwicklung“, sagt auch Heil, denn neue Wirtschaftsformen bedrohten die Gesellschaft. Allerdings gibt Heil zu bedenken, dass auch schon Karl Marx das Ende der Mittelschicht prophezeit habe, und es dann doch nicht gekommen sei. Voraussetzung für die Zukunft aber sei, dass man zusammen mit dem technischen Fortschritt sozialen Fortschritt erreiche. Wenn es bisher um die soziale Marktwirtschaft ging, dann geht es künftig um die soziale Datenökonomie, sagt Heil.
Lehren aus den USA
Hubertus Heil ist, anders als andere, bei einem USA-Besuch nicht ins berühmte Silicon Valley gefahren, sondern in den Rust Belt, den verlassenen Standort der ehemals großen US-Autoindustrie von Pennsylvania bis Wisconsin. Das mittlere Einkommen der US-Industriearbeiter ist in den letzten 30 Jahren gesunken. Ein Fünftel der Amerikaner bekommt Lebensmittelmarken.
Droht den Deutschen ein ähnliches Schicksal? Hubertus Heil will optimistisch sein. Seine Lehre ist frei nach Theodor Roosevelt: Man müsse nichts so sehr fürchten wie die Angst selbst. „Ich glaube nicht, dass uns die Arbeit ausgeht“, sagt Heil. Aber die klassische Kassiererin sei in ein paar Jahren nicht mehr da. Darum müsse man sich kümmern.
Weiterbildung – das heißt künftig nicht mehr ein Drei-Tages-Kurs zu einem Thema, sondern es heißt Qualifizierung und Umschulung, oft über lange Zeit. Heil möchte, wie er in einem Interview in Goffarts Buch verrät, die Arbeitslosenversicherung langfristig in eine Arbeitsversicherung umbauen, die für die Qualifizierung sorgt. Schließlich gehen Experten davon aus, dass in den nächsten zehn Jahren jeder vierte Beschäftigte von der Automatisierung betroffen ist. Erhebliche Arbeitsplatzverluste erwartet er auch in der Zulieferindustrie, die immer noch auf Kraftstoffautos aufgebaut ist. Hier müssten Ingenieure oft wieder von vorn anfangen.
Hubertus Heil hat in seinem Ministerium eine große Abteilung, die den Folgen der Digitalisierung auf den Grund geht. Klar ist für ihn, dass die Plattformindustrien neue Formen prekärer Abhängigkeit nach sich ziehen. Besonders ausgeprägt sei dies in den Paket- und Lieferdiensten. Man müsse Arbeits- und Sozialrecht weiterentwickeln. So gebe es in Österreich schon die Form des abhängigen Selbstständigen.
Als Wachstumsbranche gilt dagegen der Pflegebereich. Hier hofft Heil auf mehr tarifgebundene Arbeitsplätze, bislang sind es nur 20 Prozent, und einen Tarifvertrag, den er für allgemeinverbindlich erklären kann.
Es sind also zahlreiche Ansätze, wie man die arbeitende Mittelschicht für die Zukunft absichern kann. Wie nötig das ist, hat kürzlich erst eine Studie des Roman-HerzogInstituts über die „gespaltene Mitte“deutlich gemacht. Ein Drittel der Mittelschicht macht sich demnach große Sorgen. Ländliche Regionen gehören zu dem besorgteren Drittel.
Digitalsteuer nötig
Goffart macht in seinem Schlusskapitel deutlich, der Umgang mit Daten werde über die Zukunft der digitalen Gesellschaft entscheiden. Um die Menschen dafür besser zu qualifizieren, sei eine Kultur der Weiterbildung und ein Abschied vom Bildungsföderalismus hin zu einem grundlegend neuen Ausbau der Bildungssysteme nötig. Goffart spricht sich aber auch für eine europäische Digital- und eine Börsensteuer aus. und – wie der CDU-Politiker Friedrich Merz – für mehr Aktien in Arbeitnehmerhand. „Angesichts der auf uns zukommenden Probleme bei der Rente wäre es sträflich, nicht zu handeln“, so Goffart. Daniel Goffart: Das Ende der Mittelschicht. Berlin Verlag 2019, 400 Seiten, 22 Euro.