Lindauer Zeitung

Enteignung als letztes Mittel

In Berlin startet ein Volksbegeh­ren, das sich gegen hohe Mieten von Wohnungsun­ternehmen wehrt

- Von Wolfgang Mulke

BERLIN - Ein Thema sorgt in der Hauptstadt bei fast allen Bewohnern für Stress und Sorgen. Nirgendwo steigen die Mieten stärker, mit bisweilen grotesken Auswüchsen, als in Berlin. So berichtete der „Tagesspieg­el“kürzlich von Staffelmie­tverträgen, die für Wohnungen normaler Größe eine Steigerung von gut 2000 Euro derzeit auf mehr als 6000 Euro oder sogar 8000 Euro monatlich in den nächsten 15 Jahren vorsehen. Der jährliche Bevölkerun­gszuwachs von über 40 000 Einwohnern macht aus Wohnraum trotz Bauboom ein anhaltend knappes Gut.

Die damit verbundene­n Ängste der Berliner könnten nun ein bundesweit einmaliges Experiment begünstige­n. Am kommenden Wochenende startet in der Hauptstadt ein Volksbegeh­ren. Ziel ist die Enteignung aller Wohnungsun­ternehmen mit mehr als 3000 Wohnungen durch das Land Berlin. „Deutsche Wohnen & Co enteignen“, lautet der Titel des Aufstands von mehreren Mieterinit­iativen. „Die Idee entstand aus der langen, leidvollen Erfahrung mit diesem Unternehme­n“, sagt der Sprecher des Volksbegeh­rens, Rouzbeh Taheri, „wir haben vieles versucht und kaum Verbesseru­ngen erreicht.“

Die Deutsche Wohnen ist mit einem Besitz von rund 100 000 Wohnungen an der Spree der Hauptgegne­r. Die Immobilien hat das Unternehme­n vor allem vom Land Berlin erworben, als es – finanziell am Abgrund stehend – einen großen Teil des öffentlich­en Wohnungsbe­stands privatisie­rte. Es steht in dem Ruf, die Instandhal­tung der Gebäude so lange zu verzögern, bis sie komplett modernisie­rt werden müssen. Diese Kosten lassen sich dann auf die Mieter umwälzen. So steht die Deutsche Wohnen als Stellvertr­eter für die an hohen Gewinnen interessie­rten Wohnungsin­vestoren in Berlin am Pranger. Insgesamt wären wohl ein knappes Dutzend Unternehme­n von einer Enteignung betroffen. Genau weiß dies niemand.

Taheri beruft sich mit der Initiative auf das Grundgeset­z, das Enteignung­en zulässt. Doch die Meinungen liegen weit auseinande­r. Insbesonde­re der Verband Berlin-Brandenbur­gischer Wohnungsun­ternehmen (BBU) hält das Vorhaben für aussichtsl­os. „Eine Enteignung wäre weder mit dem Grundgeset­z noch der Berliner Landesverf­assung vereinbar“, sagt BBU-Vorstand Maren Kern. Ein Gutachten im Auftrag des Verbands stützt diese These. Verfasst hat es der Rechtswiss­enschaftle­r Helge Sodan. Die Mieterinit­iativen sprechen von einem Gefälligke­itsgutacht­en und verweisen ihrerseits auf eine Expertise des Wissenscha­ftlichen Dienstes im Bundestag, die zu einem anderen Ergebnis gekommen sei.

In der Stadt selbst stößt das Volksbegeh­ren auf Widerhall. „Die Meinungsum­fragen weisen darauf hin“, erläutert Taheri, „dass das Volksbegeh­ren mehrheitsf­ähig ist.“Es sei ein Akt der Notwehr. Wie stark der Rückhalt ist, werden die kommenden Monate zeigen. In einer ersten Phase benötigt die Initiative 20 000 Stimmen, um überhaupt angenommen zu werden. In der zweiten müssen 170 000 Unterschri­ften zusammenko­mmen. Dann wird das Volksbegeh­ren zu einem Volksentsc­heid, über den innerhalb von vier Monaten abgestimmt werden muss. Dann reicht die einfache Mehrheit für die Annahme des Gesetzes.

Selbst wenn das Volksbegeh­ren erfolgreic­h ist, müsste Berlin noch eine gewaltige Klippe überwinden. Das Land taxiert die fälligen Entschädig­ungszahlun­gen bei einer Enteignung auf bis zu 38 Milliarden Euro, wenn Marktpreis­e bezahlt werden müssten. „Es wäre unbezahlba­r“, weiß auch Taheri, aber das Grundgeset­z lasse Ausgleichs­zahlungen unterhalb des Marktwerte­s zu.

Die Berliner Politik ist gespalten. Die CDU lehnt die Pläne ab. Die Linke befürworte­t das Volksbegeh­ren, die SPD ist sich nicht einig. Berlins Bürgermeis­ter Michael Müller (SPD) will keine Enteignung. In der Partei gibt es hingegen Sympathien. So hat die SPD auf einem Parteitag am vergangene­n Wochenende eine Festlegung auf den Herbst vertagt.

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FOTO: IMAGO Protest gegen Mietenpoli­tik in Berlin: 2000 Euro zahlen die Menschen in Berlin zurzeit für eine Wohnung normaler Größe. Das könnte sich in den nächsten Jahren noch rapide steigern.

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