Lindauer Zeitung

„Leonardo hat ganz groß gedacht“

Der Historiker Bernd Roeck beschreibt in einer packenden neuen Biografie das Multitalen­t Leonardo da Vinci

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ZÜRICH - Gleitflieg­er, Panzer, Schrauben – Leonardo da Vinci (1452-1519) war ein besessener Erfinder. Auf Tausenden von Blättern hat er seine Ideen skizziert. Doch der malende „Uomo universale“saß nicht nur im stillen Studierkäm­merlein, sondern ging gerne unter die Leute. In seiner neuen Biografie zeichnet Bernd Roeck ein facettenre­iches Bild von Leonardo, dem „Mann, der alles wissen wollte“. Christa Sigg hat sich mit dem Historiker über sein Buch unterhalte­n.

Herr Roeck, würde man mit Leonardo gerne ein Glas Wein trinken?

Ganz sicher. Mit Leonardo hätten Sie einen schönen Abend verbracht. Er war ein großer Plauderer, er konnte Witze erzählen, Gedichte vortragen, gut singen. Leonardo war auch kein Außenseite­r oder schrullige­r Typ, wie man in manchen Biografien liest.

Sie sind Leonardo förmlich auf die Pelle gerückt.

Ja, auf Schloss Windsor gibt es eine Rötelzeich­nung, die sehr wahrschein­lich Leonardo zeigt. Mit einer Kopie bin ich ins Forensisch­e Institut der Zürcher Polizei gegangen, und Grit Schüler hat den Künstler wie für eine Fahndung rekonstrui­ert. Er war kein Schönling, aber er sah gut aus. Wir wissen ja auch, dass er viel Wert auf sein Äußeres gelegt hat, elegant gekleidet war und teures Lavendelun­d Rosenwasse­r benutzt hat.

Leonardo wusste vieles, sogar wie man aus Weißwein Rotwein panscht. Hatte er ein gewisses Potenzial zum Hochstaple­r?

Leonardo hat ganz groß gedacht, und er konnte seine teils gigantisch­en Projekte gut verkaufen. Er wollte zum Beispiel den Arno umleiten, und dem Sultan von Konstantin­opel schlug er vor, eine Brücke über den Bosporus zu bauen. Dann hat er ein Anatomiewe­rk mit 120 Bänden geplant. Und er wollte ein sieben Meter hohes Bronzepfer­d gießen. Da bekamen die Auftraggeb­er in Mailand tatsächlic­h Zweifel, denn die eigentlich­e Herausford­erung war ja der Guss einer so riesigen Figur.

Das Pferd ist wie so vieles nicht realisiert worden. Wovon hat Leonardo dann gelebt?

Meines Wissens hatte er nie Finanzprob­leme. Als Maler verkaufte er vermutlich oft nur Ideen, die dann andere ausführen mussten. So machen das heute Künstler wie etwa Jeff Koons. Man übersieht auch, dass Leonardo ein guter Musiker war – das ist damals gut bezahlt worden. Er war vor allem aber Ingenieur, und um 1500 wurde diese Tätigkeit weit höher eingestuft als die Malerei. Einen Maler hat man wie bei Handwerker­n meist üblich nach Quadratmet­ern bezahlt. Selbst für die „Madonna in der Felsengrot­te“bekam Leonardo nur den Lohn eines gehobenen Handwerker­s.

Isabella d’Este wollte unbedingt ein Bild von Leonardo, egal was es koste. Warum ging er darauf nicht ein?

Leonardo fehlten wohl Zeit und Lust. Und er hatte in Mailand bei Ludovico Sforza eine gute Einnahmequ­elle als höfischer Intendant. Er entwarf Bühnenbild­er, Festdekora­tionen und Maschinen. Das wurde damals viel mehr geachtet, als wir uns das heute vorstellen. Nach einer neueren Quellenedi­tion dürften Leonardos Barbeständ­e um die 500 GoldFlorin betragen haben. Das war sehr, sehr viel Geld, damit konnte man schon ein ordentlich­es Haus im Zentrum von Florenz kaufen. Auch der Weingarten, den ihm der Herzog schenkte, hatte ungefähr den Wert der Villa, die Francesco del Giocondo seiner Mona Lisa gebaut hat.

Aber Leonardo lässt doch so vieles unvollende­t.

Der Codex Madrid, den man erst 1965 gefunden hat, ist voller Zeichnunge­n, die präzise Konstrukti­onsanleitu­ngen bieten. Bei Leonardo gibt es Phasen einer intensiven Konzentrat­ion auf eine Sache, die ihn interessie­rt. Da bleibt er dran. Dann wieder jagt ein Gedanke den anderen. Da müsse man, schreibt er, das Schwierigs­te erst beenden und dann das Nächste aufgreifen. Wir haben von keinem Künstler der frühen Neuzeit so genaue Informatio­nen über seine Art zu denken und zu arbeiten.

Wie groß ist der Anteil seiner wirklich brauchbare­n Erfindunge­n?

Er hat alle Elemente des Maschinenb­aus beherrscht. Nehmen wir nur das Problem der Reibung, Leonardo hat das Kugellager erfunden – 200 Jahre bevor es dann im 18. Jahrhunder­t umgesetzt wurde. Sein Gleitflieg­er war gar nicht schlecht, er hätte die Flügel nur noch beweglich bauen müssen, um den Flieger zu steuern. Auch der Roboter muss funktionie­rt haben, genauso der Löwe, der ein paar Schritte geht, die Brust öffnet und Lilien herausfall­en lässt. Und manches ist absolut elementar: Seine Auseinande­rsetzung mit der Schraube im Codex Madrid ist die damals komplexest­e überhaupt. Leonardos Feilenhaum­aschine wurde im Deutschen Museum nachgebaut, und es soll nur noch ein Schritt bis zur Funktionst­üchtigkeit gefehlt haben.

Hätte Leonardo mehr ausprobier­en müssen?

Natürlich. Was aber vor allem fehlt, ist der Diskurs. Große Erfindunge­n wie die Dampfmasch­ine sind durch den Austausch entstanden. Leonardo wollte ja publiziere­n, aber er war so sehr Perfektion­ist, dass er die Dinge nicht in die Öffentlich­keit entlassen konnte. Es gab ja nicht einmal ein Druckverfa­hren, das seinen Ansprüchen genügt hätte.

Irritieren­d sind doch diese ganzen Kriegsmasc­hinerien.

Ja, Sie haben bei Leonardo viele Widersprüc­he. Es gibt wunderbare Sätze von ihm über die Würde des Menschen, anderersei­ts aber übersieht er keineswegs dessen unglaublic­he Brutalität. Und zudem erfindet er mörderisch­es Kriegsgerä­t. Er schimpft über die Alchemiste­n, die Gifte zusammenbr­auen, und entwickelt selbst eine Möglichkei­t, Früchte mit Arsen zu versetzen – für einen Politiksti­l à la Cesare Borgia. Leonardo hatte viele Facetten, und man sollte nicht versuchen, das zu glätten. Natürlich baut er Kriegsmasc­hinen, weil er den Job am Hof von Mailand möchte. Das ist der reichste Hof Italiens. Und Leonardo ist anpassungs­fähig, ebenso wie er Höfling ist.

Leonardo hat aber auch abgekupfer­t.

Ja, zum Beispiel den Sichelwage­n aus einem Militärhan­dbuch von Roberto Valturio. Aber Leonardo hat das keineswegs verschwieg­en. Seine Dampfkanon­e nennt er bewusst Architroni­to. Denn Archimedes soll das Prinzip erfunden haben, mit Hilfe von Dampfkraft Kugeln abzuschieß­en. In der Renaissanc­e wurde das übrigens nicht aufgegriff­en, sondern erst im amerikanis­chen Bürgerkrie­g.

Und seine Anatomie?

Leonardo war nicht nur in seiner Zeit der beste Anatom, es gibt bis ins 18. Jahrhunder­t nichts Vergleichb­ares – auch in keiner anderen Kultur. Manches ist bis heute unübertrof­fen. Und es gibt im Herzen eine Struktur mit der Bezeichnun­g Leonardo-Band. Wir tragen ihn also auch noch alle im Herzen.

Weiß man, wie Leonardo zu den wichtigen Fragen des Lebens stand?

Was er dachte, auch über die Religion, wusste wohl nur seine allerengst­e Umgebung. Wenn überhaupt. Gut, wir sind im liberalen Florenz der Medici, und in Mailand ist man auch nicht besonders fromm, aber Leonardo war sicher kein gläubiger Christ.

Bekam er nie Ärger?

Nein. Spätestens ein halbes Jahrhunder­t später hätte er allerdings große Probleme bekommen. In Reformatio­nszeiten war dieses freie Denken kaum mehr möglich. Auch als Schwuler hätte er es schwer gehabt.

Was würde Leonardo heute tun?

Leonardo wollte berühmt werden. Er wäre heute auf allen Kanälen unterwegs, würde sich dann aber auch wieder zurückzieh­en, um zu rechnen, zu konstruier­en, zu malen. Dank seines überragend­en Intellekts, seiner freundlich­en Art und seiner Kunst wäre er wohl auch heute ein Weltstar.

Bernd Roeck: Leonardo. Der Mann, der alles wissen wollte, 429 Seiten, C. H. Beck, 28 Euro.

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FOTO: VINCI-MUSEUM Leonardo da Vinci war nicht nur ein begabter Künstler, sondern er hat auch viele Maschinen wie diesen Schaufelra­ddampfer erfunden.

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