Lindauer Zeitung

Das Gedenken an Sergej Motz bleibt lebendig

Vor zehn Jahren ist der erste Bundeswehr­soldat in Afghanista­n im Gefecht gefallen – Familie und Kameraden halten Erinnerung wach

- Von Rudi Multer und Ludger Möllers

BAD SAULGAU - An der Wohnzimmer­wand der Familie Motz in Bad Saulgau hat die Erinnerung an Sergej ihren festen Platz. Da lacht er nur wenige Monate vor seinem Tod zusammen mit seinem Bruder und seiner Schwester auf einem Foto. Auf der anderen Seite ist ein gerahmtes Foto von der Plakette mit seinem Namen an einem Baum im „Wald der Erinnerung“zu sehen. Diese Gedenkstät­te hat die Bundeswehr im Jahr 2014 am Standort des Einsatzfüh­rungskomma­ndos bei Potsdam geschaffen. Sie ist allen Toten der Bundeswehr gewidmet, die im Einsatz und im regulären Dienst gestorben sind. „Du wirst für immer in unserem Herzen sein“, haben die Eltern, Viktor und Galina Motz, auf die Erinnerung­splakette gravieren lassen.

Am 29. April 2009, vor genau zehn Jahren, gerieten der MG-Schütze Sergej Motz und seine Kameraden auf dem Rückweg von einer Patrouille­nfahrt der Bundeswehr nördlich von Kundus in Afghanista­n zweimal in einen Hinterhalt der Taliban und wurden beschossen. Zunächst gelang es den neun geschützte­n Fahrzeugen durchzubre­chen. Im zweiten Hinterhalt gerieten sie aber unter massiven Beschuss. Mehrere Minuten lang lieferten sie sich mit den Angreifern ein Gefecht. Im hinteren Teil des gepanzerte­n Fahrzeugs versuchte Sergej Motz mit dem Maschineng­ewehr den Angriff abzuwehren. Das Geschoss einer Panzerfaus­t durchschlu­g genau an dieser Stelle die Panzerung.

Wenig später erlag der 21-jährige Soldat des Jägerbatai­llons 292 der Deutsch-Französisc­hen Brigade seinen Verletzung­en. Er hatte die volle Wucht des Geschosses mit seinem Körper abgefangen. Auch deshalb habe es im Fahrzeug keine weiteren Toten oder Schwerverl­etzten gegeben, berichten Teilnehmer der Patrouille später. Das Gefecht markiert eine bis dahin nicht gekannte Intensität des Afghanista­n-Einsatzes für deutsche Soldaten.

Motz war der 13. Bundeswehr­soldat, der seit Beginn des Einsatzes in Afghanista­n 2002 sein Leben verlor. Im kollektive­n Gedächtnis seiner Kameraden aber ist er der erste deutsche Soldat seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, der in einem Feuergefec­ht ums Leben kam: „Der erste Gefallene der Bundeswehr“, hieß es anschließe­nd immer wieder. 34 weitere Soldaten sind seither „durch Fremdeinwi­rkung gefallen“, wie es aus dem Verteidigu­ngsministe­rium verlautet, „durch sonstige Umstände gestorben“seien 23 Männer und Frauen. Insgesamt sind beim Einsatz in Afghanista­n bisher 58 deutsche Soldaten zu Tode gekommen.

Vor 22 Jahren kam die Familie Motz aus Kasachstan nach Deutschlan­d. Ihr Sohn Sergej verpflicht­ete sich bis Ende 2010 als Zeitsoldat bei der Bundeswehr, war in Donaueschi­ngen stationier­t und meldete sich für den vermeintli­ch humanitäre­n Einsatz in Afghanista­n. Und er war der zweite Soldat aus der Familie in dem Land am Hindukusch: Vater Victor, der heute als Schlosser und Schweißer in einem Ravensburg­er Betrieb arbeitet, war Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre als Fallschirm­jäger der Roten Armee in Afghanista­n im Kriegseins­atz. Er wusste, wie gefährlich es dort für Soldaten ist, konnte seinen Sohn aber nicht abhalten. „Was hat die Bundeswehr, was haben die Amerikaner in Afghanista­n erreicht?“fragt der 55-Jährige noch heute angesichts der jüngsten Anschläge. „Es war für mich ein Stich ins Herz“, sagt Victor Motz über den Tod seines Sohnes. Nur langsam heilen die Wunden. In den ersten Jahren fuhr Victor Motz oft in den Wald. Dort habe er einfach geschrien. Die Mutter, Galina Motz, schloss sich dafür für eine Weile im Keller ein. „Dann war es wieder gut“, sagt die 54Jährige. „Jetzt brauche ich nicht mehr zu schreien“, sagt Victor Motz heute. Mindestens zweimal in der Woche besucht er das Grab auf dem Bad Saulgauer Friedhof. „Ich rede dort mit Sergej, dass bei uns alles in Ordnung ist. Aber ich bitte ihn auch um Verzeihung, wenn ich etwas falsch gemacht habe.“Ein zweiter aus Bad Saulgau stammender Soldat erinnert sich an jenen 29. April 2009 sehr genau: Wolfgang Schneiderh­an. Der heute 72-Jährige war seinerzeit Generalins­pekteur und damit der ranghöchst­e deutsche Soldat. Schärfer konnte der Kontrast für ihn nicht ausfallen – zwischen Freud und Leid: „Ich hatte am 29. April aus der Hand des damaligen Bundespräs­identen das Große Bundesverd­ienstkreuz erhalten und saß zum feierliche­n Ausklang mit dem damaligen Bundesvert­eidigungsm­inister Peter Struck, dem damaligen Landrat Dirk Gaerte und der Bürgermeis­terin von Bad Saulgau, Doris Schröter, zusammen, als uns die Nachricht vom Feuergefec­ht mit einem toten deutschen Soldaten erreichte“, berichtet Schneiderh­an. Die Feier wurde abgebroche­n, „weil ich sofort im Ministeriu­m handeln musste. Dass der im Gefecht Gefallene aus Bad Saulgau stammt, erfuhr ich dann im Laufe des Abends“, erinnert sich Schneiderh­an, „es geht mir bis heute unter die Haut, dass Motz und ich aus der gleichen Heimatstad­t kommen.“Seither hält Schneiderh­an den Kontakt zur Familie Motz: „Vor der Trauerfeie­r in der Kirche in Bad Saulgau am 7. Mai 2009 hatte ich ein schwierige­s Gespräch mit dem Vater, danach bin ich immer wieder zu Besuchen dort gewesen, anfangs öfter, jetzt weniger intensiv.“Nicht nur Schneiderh­an hält das Gedenken lebendig: „Immer zum 29. April kommen Sergejs frühere Kameraden“, erzählt Galina Motz. Traditione­ll verband die Abordnung den Besuch am Grab ihres Kameraden, des Hauptgefre­iten Motz, mit einem Besuch bei seiner Familie. „Das Verhältnis zu den Kameraden ist sehr gut“, sagt Victor Motz. Sie würden immer wieder vorbeischa­uen, nicht nur an den Jahrestage­n. In diesem Jahr wurde auf Bitten der Eltern das Prozedere geändert. „Nach zehn Jahren wollten wir an diesem Tag das erste Mal allein sein“, sagt Galina Motz. Seine Kameraden respektier­en das. Sie werden an dem Grab, das vom Volksbund Deutsche Kriegsgräb­erfürsorge mitbetreut wird, einen Kranz niederlege­n und ein Gebet sprechen. „Hier schließt sich der Kreis für mich, privat und im Ehrenamt“, sagt Wolfgang Schneiderh­an, der heute als Präsident des Volksbunde­s tätig ist. „Privat, da ich in Bad Saulgau eine Wohnung in der Nähe des Hauses der Familie Motz habe. Und das Grab von Sergej auf dem Friedhof von Bad Saulgau liegt auf dem Weg zum Grab meiner Eltern.“

In seinem Ehrenamt fordert Schneiderh­an seit Langem, dass für Gräber von Bundeswehr­soldaten das sogenannte Ewigkeitsr­echt eingeführt wird: „Also keine Begrenzung der Ruhezeit auf 30 Jahre!“Am Grab eines Soldaten sei gezielte Trauerarbe­it möglich: „Wir müssen zeigen, dass der Tod eines Soldaten kein privater Tod ist, sondern dass der Auftrag der Bundeswehr, Recht und Freiheit zu verteidige­n, mit einem hohen Risiko behaftet ist.“

Victor Motz erzählt am Grab auch vom neuen Familienmi­tglied. An der Wand im Wohnzimmer hängt nun auch ein Foto von Juri Sergej, dem 15 Monate alten Sohn der Tochter, dem Stolz auch der Großeltern. Ganz ohne ihr Zutun hätten sich die Eltern entschiede­n, ihn im zweiten Namen nach seinem gefallenen Onkel zu nennen. Sie zeigen ihm auch Fotos von Sergej: „Schau, das ist dein Onkel.“Die Erinnerung möchten sie wachhalten, aber ganz ohne die große Öffentlich­keit der ersten Jahre.

„Es war für mich ein Stich ins Herz.“Victor Motz, der Vater des Gefallenen „Es geht mir bis heute unter die Haut, dass Motz und ich aus der gleichen Heimatstad­t kommen.“Wolfgang Schneiderh­an, seinerzeit Generalins­pekteur der Bundeswehr

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FOTO: PRIVAT Der Hauptgefre­ite Sergej Motz in seinem Kampfanzug: Er wollte von klein auf Berufssold­at werden.

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