Lindauer Zeitung

Rumänische­s Kinderheim im Zwielicht

Auslandspr­ojekte für schwierige Jugendlich­e stehen wieder grundsätzl­ich in der Kritik

- Von Christina Sticht und Kathrin Lauer

BOTHEL/BUKAREST (dpa) - Nebel steigt aus den Wiesen auf, im Hintergrun­d erheben sich die Gipfel der Karpaten, auf anderen Bildern sind Pferdewage­n und Holzhütten zu sehen: Mit idyllische­n Fotos wirbt der niedersäch­sische Jugendhilf­eträger Wildfang für das Projekt Maramures in Rumänien. „Das Geheimnis unserer Arbeit ist ein stets respektvol­ler und immer klarer Umgang mit den Jugendlich­en“, steht auf der Internetse­ite des in Bothel ansässigen Trägers, der seit Jahren Teenager aus schwierige­n Lebensverh­ältnissen in die von einem deutschen Ehepaar geführte Einrichtun­g vermittelt.

Doch seit dem 29. August stehen schwere Vorwürfe im Raum: In dem Projekt sollen Jugendlich­e misshandel­t worden sein. Die auf organisier­tes Verbrechen spezialisi­erte Staatsanwa­ltschaft in Bukarest teilte nach einer Razzia mit, die 12- bis 18-Jährigen sollen in dem Heim nahe der ukrainisch­en Grenze „in Bedingunge­n wahrhafter Sklaverei“ausgebeute­t worden sein. Der deutsche Projektlei­ter sowie mehrere Mitarbeite­r wurden verhaftet, die Fahnder beschlagna­hmten Akten, Computer sowie rund 146 000 Euro. Ermittelt wird wegen Menschenha­ndels, Handels mit Minderjähr­igen und illegaler Freiheitsb­eraubung im Zeitraum von 2014 bis August 2019.

Ein geflohener Jugendlich­er hatte Berichten zufolge die Behörden alarmiert. Er wurde gemeinsam mit drei weiteren Teenagern aus NordrheinW­estfalen, Niedersach­sen und Hessen vom rumänische­n Kinderschu­tzamt in Obhut genommen. Die Staatsanwa­ltschaft spricht von Schlägen, Nahrungsen­tzug und einer Art Isolations­haft. „Wenn wir irgendeine­n Fehler machten, wurden wir mit Prügel bedroht und übel verprügelt“, zitiert der NDR aus den Ermittlung­sakten. Der Anwalt des festgenomm­enen Deutschen, Ioan Sas, sagte, es werde geprüft, ob die Aussagen der Jugendlich­en glaubhaft seien.

Häufig werden Mädchen und Jungen von den Jugendämte­rn in Auslandspr­ojekte gesteckt, wenn Hilfen in Deutschlan­d gescheiter­t sind. Es können langjährig­e Schulverwe­igerer sein, Kinder mit Suchtprobl­emen oder einer kriminelle­n Karriere. Voraussetz­ung ist die Einwilligu­ng der Sorgeberec­htigten. Die Hilfen zur Erziehung im Ausland werden nur in Ausnahmefä­llen gewährt. Rund 400 sind es jährlich bundesweit.

Das Projekt sei mehrfach von rumänische­n Kinderschu­tzbehörden überprüft worden, betont der Träger. Zudem werde es durch kontinuier­liche Besuche, Beratungen und Supervisio­nen aus Deutschlan­d begleitet. Zuletzt waren 23 Jugendlich­e über Wildfang in Maramures untergebra­cht, die meisten in Gastfamili­en. Fünf von ihnen reisten dem niedersäch­sischen Sozialmini­sterium zufolge nach den Festnahmen freiwillig aus. Die Mehrheit wolle aber bleiben und habe in Telefonges­prächen mit Eltern die Vorwürfe der vier in Obhut genommenen Jugendlich­en nicht bestätigt, hieß es.

Jonelle Kooi wurde vom zuständige­n Jugendamt Leer zurück nach Deutschlan­d geholt. „Freiwillig wäre ich da nicht weggegange­n. Mir hat es super dort gefallen“, sagt die junge Frau. Fast zwei Jahre war die 18-Jährige in dem Projekt. Nach drei Monaten wechselte sie vom Haupthaus in eine Gastfamili­e. Von Schlägen oder Sklavenarb­eit habe sie nichts mitbekomme­n, betont Jonelle Kooi.

Kühe melken, Zäune reparieren, Wassereime­r schleppen: Viele Dinge tun die Jugendlich­en auf dem Bauernhof zum ersten Mal in ihrem Leben. Es gibt Foto- und Filmreport­agen, die schildern, wie die Kinder durch harte Arbeit und strenge Regeln wieder in die Spur finden. Allerdings gab es schon früher auch Zweifel am pädagogisc­hen Konzept. Der Hof des Paares aus Sachsen-Anhalt stand bereits vor zehn Jahren in der Kritik. „Werden niedersäch­sische Jugendlich­e Opfer schwarzer Pädagogik und als billige Arbeitskrä­fte missbrauch­t?“, fragte die SPD im Landtag von Hannover. Der Landkreis Celle hatte Ende 2009 ein Mädchen aus dem Projekt abgezogen. Dem Kind seien die Haare abrasiert worden – als Begründung wurde Lausbefall angeführt.

Werner Freigang, Professor für Pädagogik, Sozialpäda­gogik, Erziehungs­und Familienhi­lfen in Neubranden­burg, war seit 2017 achtmal für drei bis sechs Tage in Maramures. Ein System der Sklavenarb­eit erscheine ihm weit hergeholt, sagt der Wissenscha­ftler. „Einige Jugendlich­e baten um Verlängeru­ng ihres Aufenthalt­s, was gegen Versklavun­g spricht, aber natürlich auch ein wenig dafür, wie schwer und angstbeset­zt es ist, aus dieser Welt wieder nach Deutschlan­d zurückzuke­hren.“

Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) plädiert angesichts der Ermittlung­en in Rumänien für schärfere Kontrollen: „Besonders wichtig ist, dass diese Kontrollen auch direkt im Ausland stattfinde­n. Die Jugendämte­r hier in Deutschlan­d müssen sich vor Ort versichern, dass die Träger im Ausland das Wohl der Jugendlich­en gewährleis­ten.“

Die Bundesarbe­itsgemeins­chaft (BAG) Landesjuge­ndämter bemängelt, dass immer noch deutschlan­dweite Standards für die Auslandsun­terbringun­gen fehlen und die Aufsicht allein bei dem für den jeweiligen Teenager zuständige­n Jugendamt liegt.

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FOTO: KINDER- UND JUGENDHILF­E WILDFANG GMBH/DPA Projekthof des Jugendhilf­eträgers Wildfang GmbH in Maramures.

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