Mehr als 1300 Menschen streiken fürs Klima
So groß war Fridays for Future in Lindau vorher noch nie – etwa die Hälfte sind Erwachsene
LINDAU - Es ist kurz vor zwölf, als sich hunderte Menschen vor dem Alten Rathaus auf der Lindauer Insel versammeln. Zu den Schülern gesellen sich immer mehr Erwachsene. Als Emily Schneider die Fridays-forFuture-Demo eröffnet, steht sie vor 1300 Demonstranten. Ein absoluter Rekord, denn bei der bislang größten Lindauer Klimademonstration waren 400 Menschen. Den Startschuss gibt die 14-jährige Emily um fünf vor zwölf – aus gutem Grund.
Die Symbolik ist bewusst gewählt, wie Emilys Mitstreiterin Keona Schroff nach gut einer Stunde Demonstration ihrem Publikum erklärt. „Wenn wir fünf vor zwölf sagen, dann heißt das, es ist höchste Eisenbahn“, schreit sie. Es sei eine regelrechte Frechheit, dass junge Menschen für ihre Zukunft streiken müssten. „Haben die wirklich geglaubt, dass es niemand merkt, wenn sie unseren einzigen Planeten zerstören?“
„Die“, das sind die Erwachsenen. Allerdings sind unter ihnen mittlerweile offenbar einige, die die Forderungen der Schüler ernst nehmen. Denn mindestens die Hälfte der Streikenden am Freitagmittag ist weit über 18 Jahre alt. Unter ihnen sind viele Arbeitnehmer, die sich extra die Zeit für die Demonstration genommen haben.
Matthias Kramer hat sich für den Streik freinehmen müssen, denn in Deutschland gibt es kein politisches Streikrecht. Möchten Arbeitnehmer während der Arbeitszeit streiken, müssen sie sich Urlaub nehmen oder Überstunden abarbeiten. Kramers Arbeitgeber wisse aber Bescheid und hat den Urlaub genehmigt.
Für Jürgen Dillmann aus Kressbronn kommt sein flexibles Arbeitsmodell gelegen. Am Tag des Streiks arbeitet er von zu Hause aus. An seinem Arbeitsort in Ravensburg findet keine Demonstration statt, deshalb laufe er mit seinem Sohn in Lindau mit. Sein Chef wisse Bescheid und dulde seine Teilnahme, aber die versäumte Arbeitszeit hole er nach.
Für Hannes Lichtner liegt der Streik auch während seiner Arbeitszeit, mit seiner Teilnahme arbeitet er aber. Er ist Lehrer an der Freien Schule in Lindau und nimmt mit seiner Klasse gemeinsam teil. „Das wurde aber in der Klasse demokratisch abgestimmt, das habe nicht ich beschlossen“, erklärt er. Auf die Frage, ob er wohl auch ohne die Initiative seiner Klasse am Streik teilnehmen würde, antwortet er: „Wahrscheinlich ja, aber auch nur, wenn mein Fehlen nicht zu Lasten meiner Kollegen ist.“
Katja Dell aus Wasserburg ist selbstständig und kann daher auch selbst bestimmen, wann sie arbeitet. Dass sie sich für die Klimademo Zeit nimmt, ist für sie selbstverständlich. „Weil ich es sehr traurig finde, dass Kinder allein auf die Straße müssen, um für ihre Zukunft zu streiken.“
Robert Franken ist mit seiner ganzen Familie zum Streik nach Lindau gekommen. Und das, obwohl eigentlich ein besonderes Familienfest ansteht: Seine Eltern Renate und Harry Franken feiern Goldene Hochzeit. „Heute ist unsere Goldene Hochzeit, aber das hier ist wichtiger“, steht auf dem Schild, das Harry Franken in die Luft hält. Auch Robert Frankens Frau und Sohn sind mit dabei, die Familie kommt aus Bayreuth und ist in Lindau im Urlaub.
„Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“, „Rettet die Pole, raus aus der Kohle“tönt es durch Lindaus Straßen. Der Zug führt vom Alten Rathaus durch die Maximilianstraße und die Cramergasse vorbei am Marktplatz und durch die Fischergasse an den Hafen. Neben „Opas for Future“sind auch ganz junge Demonstranten dabei. Zum Beispiel der neunjährige Jonah, der sich auch in seiner Freizeit um das Klima sorgt: „Wenn ich für meine Kaninchen Löwenzahn sammel, dann sammel ich auch immer die Plastikbecher ein“, erzählt er. Auf der Demo ist er gemeinsam mit seiner Mutter, aber auch viele seiner Mitschüler seien bei dem Streik dabei.
Durch den Inselgraben geht es zurück vors Alte Rathaus, wo auch OB-Kandidat Daniel Obermayr und Erich Jörg, Vorsitzender des Bund Naturschutz, kurze Reden halten. Martin Koch vom Fotostudio Koch hat ihnen dafür seinen Balkon zur Verfügung gestellt. Daniel Obermayr freut sich, dass so viele Menschen gekommen sind. Und dass darunter auch welche sind, mit denen er sich „in Sachfragen nicht einig“ist. Erich Jörg erinnerte einen Wäsenkrieg, dessen Ausgang ebenfalls eine große Errungenschaft für das Klima gewesen sei, und lädt alle Streikenden für Samstagvormittag um zehn in den Wäsen ein, wo das Jubiläum des Kriegs gefeiert wird.
Fridays for Future ist in Lindau mittlerweile zu einer gut organisierten Ortsgruppe gewachsen. „Wir sind jetzt zehn Schülerinnen und Schüler im festen Team“, erklären Emily Schneider und Weda Lanzendorfer, „so lassen sich auch richtige Aktionen planen und durchführen“. Das zeige sich auch in den kommenden Tagen, während der sich die Lindauer Gruppe an der deutschlandweiten Klimawoche beteiligt. Direkt nach Abschluss der Demo machen sich die Schülerinnen und Schüler, anlässlich des Weltkindertages, auf den Weg zum Laternenbasteln mit jüngeren Kindern in der freien Schule. Am Abend wird es einen Laternenumzug geben und für das Wochenende sind eine Baumpflanzaktion und ein Kleiderkreisel geplant.
„97 Prozent der Wissenschaftler aus 800 Ländern sind sich einig, dass es den menschengemachten Klimawandel gibt“, sagt Weda in ihrem Redebeitrag zum Ende. „Fast alle hier würden lieber zur Schule gehen als für das Klima zu streiken.“
„Wenn wir fünf vor zwölf sagen, dann heißt das, es ist höchste Eisenbahn.“Keona Schroff