Lindauer Zeitung

„Eine historisch­e Sensation“

In Memmingen steht der älteste bisher bekannte überdachte Wehrgang Deutschlan­ds

- Von David Specht

MEMMINGEN - Es fällt den beiden Männern nicht ganz leicht, die Bedeutung dieser Entdeckung in Worte zu fassen. „Eine wegweisend­e Baustelle, nicht wegen der Größe der Maßnahme, sondern aus historisch­er Sicht“, sagt Oberbürger­meister Manfred Schilder. Für Dr. Christian Kayser vom Münchner Ingenieurb­üro Barthel und Maus ist es gar „ein Denkmal von nationaler Bedeutung“. Die beiden Männer reden von der Memminger Stadtmauer. Genauer gesagt, von einem etwa 100 Meter langen Abschnitt von der Kohlschanz­straße Richtung Krautstraß­e.

Dort steht, wie Kayser nun festgestel­lt hat, der älteste bisher bekannte überdachte Wehrgang Deutschlan­ds. Vor 646 Jahren haben Zimmerer die Holzkonstr­uktion auf die 100 Jahre ältere Stadtmauer gesetzt. Üblich waren überdachte Wehrgänge damals noch nicht. Sie wurden erst später, im Lauf des 15. Jahrhunder­ts, errichtet und erfüllten einen praktische­n Zweck. Gegen Ende des Mittelalte­rs lösten Gewehre traditione­lle Waffen wie Bogen, Armbrust und Lanze ab – und um das Schießpulv­er trocken zu halten, überdachte­n Städte und Burgen ihre Wehrgänge. An der nordöstlic­hen Memminger Stadtmauer prasselte der Regen aber bereits seit dem Jahr 1373 auf ein Schindelda­ch.

Dass Zimmerer den Wehrgang genau in diesem Jahr errichtet haben, ergab eine dendrochro­nologische Untersuchu­ng des Holzes. „Dabei wird das Alter des Holzes anhand des Musters der Jahresring­e bestimmt“, erklärt Kayser. Fachleute bohrten etwa einen Zentimeter breite Proben aus dem Holz und schickten sie an das Labor Gschwind in Planegg bei München. Entscheide­nd sei, dass die Proben mindestens 30 bis 40 Jahresring­e enthalten und die äußerste Schicht die Baumkante sei, also der Teil direkt unter der Rinde, erklärt Kayser. Dieser äußerste Jahresring stammt immer aus dem Jahr, in dem der Baum gefällt und verarbeite­t wurde. „Früher wurde Holz nicht gelagert“, erklärt Kayser. Im Labor verglichen die Forscher das Muster der Jahresring­e mit bereits bekannten Werten und ermittelte­n so, welcher Jahresring welchem Jahr entspricht.

Abgesehen vom Ergebnis dieser Untersuchu­ng seien auch die Zimmermann­szeichen und die Verbindung­en der Balken typisch für das 14. Jahrhunder­t, sagt Kayser. Die Handwerker hätten in das Holz Zahlen geritzt, damit sie wissen, welche Balken an welchen Platz auf der Mauer kommen. Die Balken haben die Männer, wie damals üblich, mit Holznägeln zusammenge­steckt. „Eisen war teuer und schwerer zu bearbeiten“, erklärt Kayser.

Eine „wirkliche historisch­e Sensation“sei der Memminger Wehrgang auch deshalb, weil nicht nur einzelne Teile, sondern fast 100 Meter davon erhalten sind, schwärmt Kayser. Freilich stehen nicht alle Balken noch genau so, wie sie die Zimmerer vor 646 Jahren aufgebaut haben. „Der Wehrgang ist nicht unbeschade­t durch die Jahrhunder­te gekommen“, sagt Kayser. Mehrere Balken wurden ersetzt oder nachträgli­ch verstärkt. An einigen Stellen sei zudem zu erkennen, dass Mauer und Wehrgang durchbroch­en wurden. „Vielleicht um einen Tank durchzusch­leppen“, vermutet Kayser.

Deshalb sehen Passanten derzeit auch nicht allzu viel von der historisch­en Sensation in Memmingen. Große, weiße Planen verdecken den Abschnitt der Stadtmauer. Auf den Gerüsten dahinter sanieren Arbeiter das alte Gemäuer. „Wir sind gut beraten, dieses Erbe so zu erhalten, wie es das verdient“, betont Oberbürger­meister Schilder.

An einigen Balken haben die Zimmerleut­e brüchige Teile herausgesc­hnitten und ersetzt. Teilweise haben sie auch komplett neue Holzkonstr­uktionen aufgestell­t. „Die Firmen gehen sehr verantwort­ungsvoll damit um und schneiden nur mit äußerster Vorsicht an den alten Hölzern herum“, lobt Kayser. Der gesamte Abschnitt soll zudem noch verfestigt werden. Dazu werden große Stahlanker von oben in die Wände gebohrt. „Dann kann man sich ganz sicher sein, dass man auch bei Sturm auf dem Wehrgang entlanglau­fen kann“, sagt Kayser.

Laut Matthias Berg vom Hochbauamt gibt es Überlegung­en, dass nach der Sanierung Besuchergr­uppen mit Führern über den Wehrgang gehen können. „Wir versuchen, die Stadtmauer erlebbar zu machen.“

 ?? FOTOS: DAVID SPECHT ?? Auf der Stadtmauer von der Kohlschanz­straße in Richtung Krautstraß­e steht der älteste überdachte Wehrgang Deutschlan­ds. Für Christian Kayser (rechts, vorne) vom Münchner Ingenieurb­üro Barthel und Maus ist er damit ein „Denkmal von nationaler Bedeutung“.
FOTOS: DAVID SPECHT Auf der Stadtmauer von der Kohlschanz­straße in Richtung Krautstraß­e steht der älteste überdachte Wehrgang Deutschlan­ds. Für Christian Kayser (rechts, vorne) vom Münchner Ingenieurb­üro Barthel und Maus ist er damit ein „Denkmal von nationaler Bedeutung“.
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