„Eine historische Sensation“
In Memmingen steht der älteste bisher bekannte überdachte Wehrgang Deutschlands
MEMMINGEN - Es fällt den beiden Männern nicht ganz leicht, die Bedeutung dieser Entdeckung in Worte zu fassen. „Eine wegweisende Baustelle, nicht wegen der Größe der Maßnahme, sondern aus historischer Sicht“, sagt Oberbürgermeister Manfred Schilder. Für Dr. Christian Kayser vom Münchner Ingenieurbüro Barthel und Maus ist es gar „ein Denkmal von nationaler Bedeutung“. Die beiden Männer reden von der Memminger Stadtmauer. Genauer gesagt, von einem etwa 100 Meter langen Abschnitt von der Kohlschanzstraße Richtung Krautstraße.
Dort steht, wie Kayser nun festgestellt hat, der älteste bisher bekannte überdachte Wehrgang Deutschlands. Vor 646 Jahren haben Zimmerer die Holzkonstruktion auf die 100 Jahre ältere Stadtmauer gesetzt. Üblich waren überdachte Wehrgänge damals noch nicht. Sie wurden erst später, im Lauf des 15. Jahrhunderts, errichtet und erfüllten einen praktischen Zweck. Gegen Ende des Mittelalters lösten Gewehre traditionelle Waffen wie Bogen, Armbrust und Lanze ab – und um das Schießpulver trocken zu halten, überdachten Städte und Burgen ihre Wehrgänge. An der nordöstlichen Memminger Stadtmauer prasselte der Regen aber bereits seit dem Jahr 1373 auf ein Schindeldach.
Dass Zimmerer den Wehrgang genau in diesem Jahr errichtet haben, ergab eine dendrochronologische Untersuchung des Holzes. „Dabei wird das Alter des Holzes anhand des Musters der Jahresringe bestimmt“, erklärt Kayser. Fachleute bohrten etwa einen Zentimeter breite Proben aus dem Holz und schickten sie an das Labor Gschwind in Planegg bei München. Entscheidend sei, dass die Proben mindestens 30 bis 40 Jahresringe enthalten und die äußerste Schicht die Baumkante sei, also der Teil direkt unter der Rinde, erklärt Kayser. Dieser äußerste Jahresring stammt immer aus dem Jahr, in dem der Baum gefällt und verarbeitet wurde. „Früher wurde Holz nicht gelagert“, erklärt Kayser. Im Labor verglichen die Forscher das Muster der Jahresringe mit bereits bekannten Werten und ermittelten so, welcher Jahresring welchem Jahr entspricht.
Abgesehen vom Ergebnis dieser Untersuchung seien auch die Zimmermannszeichen und die Verbindungen der Balken typisch für das 14. Jahrhundert, sagt Kayser. Die Handwerker hätten in das Holz Zahlen geritzt, damit sie wissen, welche Balken an welchen Platz auf der Mauer kommen. Die Balken haben die Männer, wie damals üblich, mit Holznägeln zusammengesteckt. „Eisen war teuer und schwerer zu bearbeiten“, erklärt Kayser.
Eine „wirkliche historische Sensation“sei der Memminger Wehrgang auch deshalb, weil nicht nur einzelne Teile, sondern fast 100 Meter davon erhalten sind, schwärmt Kayser. Freilich stehen nicht alle Balken noch genau so, wie sie die Zimmerer vor 646 Jahren aufgebaut haben. „Der Wehrgang ist nicht unbeschadet durch die Jahrhunderte gekommen“, sagt Kayser. Mehrere Balken wurden ersetzt oder nachträglich verstärkt. An einigen Stellen sei zudem zu erkennen, dass Mauer und Wehrgang durchbrochen wurden. „Vielleicht um einen Tank durchzuschleppen“, vermutet Kayser.
Deshalb sehen Passanten derzeit auch nicht allzu viel von der historischen Sensation in Memmingen. Große, weiße Planen verdecken den Abschnitt der Stadtmauer. Auf den Gerüsten dahinter sanieren Arbeiter das alte Gemäuer. „Wir sind gut beraten, dieses Erbe so zu erhalten, wie es das verdient“, betont Oberbürgermeister Schilder.
An einigen Balken haben die Zimmerleute brüchige Teile herausgeschnitten und ersetzt. Teilweise haben sie auch komplett neue Holzkonstruktionen aufgestellt. „Die Firmen gehen sehr verantwortungsvoll damit um und schneiden nur mit äußerster Vorsicht an den alten Hölzern herum“, lobt Kayser. Der gesamte Abschnitt soll zudem noch verfestigt werden. Dazu werden große Stahlanker von oben in die Wände gebohrt. „Dann kann man sich ganz sicher sein, dass man auch bei Sturm auf dem Wehrgang entlanglaufen kann“, sagt Kayser.
Laut Matthias Berg vom Hochbauamt gibt es Überlegungen, dass nach der Sanierung Besuchergruppen mit Führern über den Wehrgang gehen können. „Wir versuchen, die Stadtmauer erlebbar zu machen.“