Freiburg-Prozess läuft bis März 2020
Der Gruppenvergewaltigungs-Prozess in Freiburg gerät zu einem zermürbenden Ringen um die Wahrheit – mit ungewissem Ausgang
FREIBURG (dpa) - Im Prozess um die Gruppenvergewaltigung einer 18-Jährigen vor einer Disco in Freiburg hat das Gericht zusätzliche Verhandlungstage bis Ende März 2020 terminiert. Grund sei die umfangreiche Beweisaufnahme, sagte ein Sprecher des Landgerichts Freiburg am Dienstag. Der Plan, den Ende Juni begonnenen Strafprozess bis Weihnachten beenden zu können, lasse sich nicht realisieren. Geplant seien im neuen Jahr bislang bis zum 27. März elf zusätzliche Prozesstage.
FREIBURG - Am Sonntag, 14. Oktober 2018 um die Mittagszeit erscheinen zwei junge Frauen in der Polizeistation der Breisgaustadt Waldkirch. Eine der Frauen weint, sie ist aufgewühlt und verzweifelt. „Ein Häufchen Elend, in sich zusammengefallen“, wie ein Polizeibeamter gestern vor dem Landgericht Freiburg schildert. Und auch äußerlich ist sie offensichtlich in einem desolaten Zustand. Hände und Fingernägel sind schmutzig, die Kleidung verdreckt, die Schminke im Gesicht zerlaufen. „Sie sah schrecklich aus“, bestätigt eine Polizeibeamtin. Und sie erzählt schreckliche Dinge. Sie sei vergewaltigt worden, erst von einem Mann, später von mehreren Männern, dabei an den Handgelenken gewaltsam festgehalten worden. „Ich wollte das nicht“, sagt sie auf dem Polizeirevier. Und bricht immer wieder in Tränen aus.
Gerichtsprozesse sind selten etwas für sanfte Gemüter, das Verfahren um die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung unweit einer Freiburger Disco ist dafür ein besonders zermürbendes Beispiel. Im Frühsommer dieses Jahres begann der Prozess unter nationaler und internationaler Aufmerksamkeit, doch auch Monate danach geht es noch immer detailliert darum, was genau in jener Nacht geschah. Dabei erschien am Anfang alles zwar abscheulich und schockierend, aber unzweifelhaft. Eine junge Frau erstattet Anzeige, sie sei – betäubt von Ecstasy, Alkohol und möglicherweise K.o.-Tropfen – in einem Gebüsch von einer Gruppe junger Männer missbraucht worden.
DNA-Spuren und Zeugenaussagen decken sich mit ihren Angaben. Auf der Anklagebank landen schließlich elf Verdächtige, zumeist Flüchtlinge, darunter mit dem 22-jährigen Syrer Majd H. der mutmaßliche Haupttäter und Anstifter. Er gilt als Intensivtäter. Zweifel an der Schuld kommen in der Öffentlichkeit kaum auf. Vor Gericht sieht die Sache nach einigen Monaten anders aus. Drei der Angeklagten sind inzwischen wieder auf freiem Fuß, der Vergewaltigungsvorwurf wurde bei ihnen fallen gelassen. Dass weitere Haftentlassungen folgen, ist nicht auszuschließen in diesem hochkomplexen Szenario. Das Freiburger Schwurgericht muss sich durch 78 Leitzordner arbeiten, jeweils 500 Seiten stark, rund 50 Zeugen und ein halbes Dutzend Sachverständige hören, Chatprotokolle und Spuren auswerten. Ursprünglich bis zum Jahresende angesetzt, wurde der Prozess jetzt bis mindestens Ende
März verlängert. „In dem Verfahren müssen sehr umfangreich Beweise erhoben werden, um die Tat vollständig aufzuarbeiten und nachzuvollziehen“, so Staatsanwalt Thorsten Krapp zur „Schwäbischen Zeitung“. „Hierzu müssen die unterschiedlichsten Beweismittel eingeführt, analysiert und bewertet werden, um das ,Puzzle’ des Tatabends zusammenzusetzen.“Dass sich allerdings je ein klares, lückenloses Bild ergibt, ist eher unwahrscheinlich. Müssen doch ebenso schwierige wie juristisch bedeutsame Fragen beantwortet werden: Standen die Angeklagten in der Tatnacht ebenfalls unter Einfluss von Drogen und Alkohol? War der Sex womöglich einvernehmlich – wie die Verteidigung vehement behauptet? In welchem Zustand war die junge Frau? Und wie glaubhaft sind ihre ohnehin bruchstückhaften Aussagen?
„Sie ist offen zu den Menschen“, sagt gestern im Zeugenstand ein Freund über die Nebenklägerin und bestätigt damit frühere Aussagen einer
„Ein Häufchen Elend, in sich zusammengefallen“
Ein Polizeibeamter über den Zustand der 18-Jährigen nach der fraglichen Nacht
20-jährigen Freundin, die in jener Nacht zusammen mit ihr in dem Technoclub im Freiburger Norden war. „Sie ist sehr, ich will nicht sagen, naiv“, so die Freundin. „Sie ist herzensoffen zu jedem.“Ein Familienmensch, „christlich“, der lieber auf Dorffeste als auf Partys gehe. Nachdem sich die beiden in jener Nacht erst aus den Augen verloren und später wieder gefunden hätten, habe sich die 18-Jährige ihr anvertraut. „Ich wurde vergewaltigt“, habe sie gesagt. „Dann ist sie richtig zusammengebrochen“, habe geschrien und geweint. „Ich hatte nicht das Gefühl, dass sie mich anlügt.“
Das Opfer selbst hat auch bereits im Prozess ausgesagt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit und via Videoübertragung. Die Konfrontation mit den Männern im Gerichtssaal wäre für sie zu belastend gewesen. Die Altenpflegerin in Ausbildung sei traumatisiert, so ein psychiatrischer Gutachter, leide unter Alpträumen und Angstzuständen, sie meide Gruppen.
Die Fragen des Gerichts hat sie laut Staatsanwalt Krapp „reflektiert und ohne jeden Belastungseifer“beantwortet, sie habe „sehr angespannt, zugleich aber sehr gefasst gewirkt“. Ihre Angaben, wie auch immer sie im Einzelnen ausgefallen sind, decken sich offenbar mit jenen von Staatsanwaltschaft und Polizei, wonach bei ihr Einblutungen an Ober- und Unterkörper festgestellt wurden sowie Kratzspuren, die von mehreren Personen stammten. Die Rede ist von inneren und äußeren Verletzungen. Laut Staatsanwaltschaft wichtige Punkte der Anklage. Aber nicht für die Verteidigung. Sie forderte am Dienstag eine Rüge für Staatsanwalt Krapp, weil sich dieser über die nichtöffentliche Aussage des Rechtsmediziners öffentlich und zu den Medien geäußert habe, zudem sachlich falsch, lautet der Vorwurf. Und so gerät jeder Prozesstag auch zu einem Ringen von Anklage und Verteidigung um Deutungshoheit und die Wahrnehmung des Falls in der Öffentlichkeit.
Die Angeklagten machen dabei einen, nun, eher bescheidenen Eindruck. Die jungen Männer tragen sportliche, legere Straßenkleidung, sie versuchen dem Verfahren zu folgen, zum Teil mithilfe von Dolmetschern.
Was mal mehr, oftmals aber weniger gelingt. Immer wieder schauen sie hoch zur Zuschauertribüne, wo mit Freunden und Freundinnen Blicke und Gesten ausgetauscht werden, man lächelt und feixt auch manchmal. Schon früher hatte der Vorsitzende Richter über undiszipliniertes Verhalten geklagt, über impulsive Ausbrüche einzelner Angeklagter und über Beleidigungen.
Der Prozess hält somit längst, was er von Anfang an versprochen hat, im bedauerlichen Sinne. Schon früh hatte sich Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) im Zusammenhang mit dem Fall geäußert, Innenminister Thomas Strobl (CDU) wurde wegen mutmaßlicher Vollstreckungspannen von der FDP gar zum Rücktritt aufgefordert, die AfD hat zur Demonstration aufgerufen; ein persönliches Drama inszeniert als politisches Scharmützel. Zudem immer wieder neu befeuert, etwa durch die mutmaßliche Gruppenvergewaltigung kürzlich bei Ulm.
„Sie ist herzensoffen zu jedem Menschen“
So beschreibt eine Freundin die junge Frau, die mutmaßlich Opfer einer Massenvergewaltigung wurde
Der öffentliche Druck, die Emotionen und Anspannungen im Gericht, all dies macht die rechtliche Aufarbeitung unter der Leitung des souverän wirkenden Vorsitzenden Richters Stefan Bürgelin nicht einfacher. Dass dabei jeder Angeklagte einzeln der Vergewaltigung überführt werden muss, gehört noch zu den juristischen Binsenweisheiten. Mindestens genauso wichtig wird die Frage sein, ob den mutmaßlichen Tätern nachzuweisen ist, dass sie die Widerstandsunfähigkeit des Opfers in dieser Nacht erkannt haben. Andernfalls, so Juristen, fehle der Vorsatz – und eine Verurteilung bliebe wohl aus.
Damit es anders kommt, muss das schwierige Puzzle dieser Nacht in den kommenden Monaten möglichst vollständig werden. Hilfreich dabei könnte ein Tonmitschnitt von dem Smartphone eines der Mitangeklagten sein. Muhanad M. half dem mutmaßlichen Opfer nach zweieinhalb Stunden aus dem Gebüsch, er kümmerte sich um die 18-Jährige. „Du bist ein wirklicher Engel“, sagt die junge Frau auf den verzerrten Aufnahmen. „Du hast mir echt geholfen.“Sie fühle sich „entehrt“, „womit hat man so etwas verdient?“, fährt sie fort und sagt: „Mir ist kalt.“