Verzicht statt Völlerei
Bestsellerautor und Naturheilkundearzt Andreas Michalsen aus Bad Waldsee wirbt für bewusste Ernährung – Keine leichte Aufgabe in der Adventszeit
RAVENSBURG Ein Moralist oder verbissener Missionar in eigener Sache ist Andreas Michalsen nicht. Sonst würde er für ein Pressefoto gewiss nicht dorthin gehen, wo es für einen Naturheilkundler wehtun muss, zumindest sprichwörtlich: auf den Ravensburger Weihnachtsmarkt. Der 58Jährige aber stellt sich entspannt vor eine Bude mit Zuckerstangen und gebrannten Mandeln, visàvis steigen die Rauchwolken gebratener Würste und Nackensteaks auf. Besucher nippen an süßem Glühwein oder tunken frittierten Brandteig genussvoll in Schokoladencreme. Allerorts trieft und duftet es nach Verführung. Es ist Weihnachtszeit und es wird geschlemmt. Womöglich bis der Arzt kommt? Michalsen lächelt beim Gang durch den kulinarischen Ausnahmezustand: „Das kann man schon alles zu sich nehmen“, sagt er, „das ist nicht schlimm. Aber es reibt.“
Was genau da reibt, wird er später in einem Vortrag im Ravensburger Schwörsaal erklären, der – Adventszeit hin oder her – bis auf den letzten Platz gefüllt ist. Im nahen Bad Waldsee geboren und aufgewachsen, hat Michalsen ein Heimspiel, vor allem aber kommen die Leute, weil er zu den einflussreichsten Naturheilkundemedizinern in Deutschland zählt. Er ist Chefarzt am Immanuel Krankenhaus in Berlin und Professor der Charité Berlin, wo er über Ernährung und Fasten forscht. Seine Bücher „Heilen mit der Kraft der Natur“und „Mit Ernährung heilen“sind Topbestseller. Auch Ratgeber wie „Darm mit Charme“oder der „Ernährungskompass“von anderen Autoren verkaufen sich wie, nun, geschnitten Brot. Alle Welt redet von fleischloser Ernährung, vegane und vegetarische Lebensweisen gehören schon zur Popkultur. Und trotzdem sagt Michalsen im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“in einem Café: „Unsere heutigen Ernährungsgewohnheiten sind regelrecht entgleist.“Nicht nur zur Weihnachtszeit. Wie passt das zusammen?
Zunächst, die Diagnose des Mediziners stimmt, sie gilt national wie international als unbestritten. So sterben einer aktuellen Studie nach weltweit etwa elf Millionen Menschen jährlich aufgrund schlechter Ernährung, die meisten wegen HerzKreislaufErkrankungen. Zugespitzt ausgedrückt: Zehn Prozent der Menschheit hungern – und der Rest isst das Falsche.
„Die Studie bestätigt, was wir lange vermutet haben“, sagte Christopher Murray von der Universität Washington. „Schlechte Ernährung fordert weltweit mehr Tote als jeder andere Risikofaktor.“Und Deutschland schneidet bei diesem Länderranking eher mäßig ab, landet auf Platz 38, nicht weit vor den USA, dem Land von Burger und Bacon, auf Platz 43. Doch was genau ist eigentlich schlechte Ernährung?
Wer in Michalsens Büchern liest, gerät schnell ins Grübeln: Fleisch? Geht eigentlich gar nicht, Wurstwaren sowieso nicht. Fisch, mmh, äußerst zweifelhaft. Eier? Besser die Finger weglassen. Käse? Schon eher, aber auch nicht so richtig toll. Und: „Milch ist ungesund.“Die Darstellung hier ist verkürzt und zugespitzt, trifft im Prinzip aber die Aussagen Michalsens, der um ihre Wirkung weiß. „Da bin ich der Spielverderber“, sagt er lachend und löffelt in einer Minestrone, die der Ober gebracht hat. „Aber Kaffee ist gesund“, fügt er an und muss erneut lachen, weil er weiß, dass sein Lob auf das koffeinhaltige Getränk meist gut ankommt. Deutlich ernster erklärt er dann: „Es geht nicht darum, auf alles zu verzichten. Aber wir essen einfach zu viel davon.“Zu viel Fett, zu viel Salz, zu viel Zucker. Er selber musste diese Lektion auch erst lernen.
Als Sohn eines KneippArztes war er, was Lebensführung und Ernährungsbewusstsein angeht, von Anfang an privilegiert. Wer in Oberschwaben aufwächst, ist aber auch in
Sachen Genuss privilegiert. Maultaschen mit Hack gefüllt, Zwiebelrostbraten mit Spätzle und Soße, Wurst und Speck in vielerlei Varianten, soll es mal ohne Fleisch sein, kommen Käsespätzle auf den Tisch, Hüftgold inklusive. „Ich habe das gerne gegessen“, sagt der 58Jährige, „ich weiß, wie gut das schmeckt.“Auch als er seine medizinische Laufbahn begann, wollte Michalsen zwischen den Einsätzen im Notarztwagen oder im Schichtdienst auf der Intensivstation nicht auf Fastfood und Süßes verzichten. „Ich war ein rauchender, Kaffee trinkender Arzt, der keinen Sport trieb.“Das ging so weit, dass er an der Charité in Berlin einen Vortrag übers Nichtrauchen hielt und sich anschließend vor der Tür eine Kippe angesteckt hat.
Die Wende kam während seiner Tätigkeit als Kardiologe. „Da haben wir Leuten wegen einer Herzerkrankung einen Bypass gelegt – und nur ein Jahr später lag derselbe Patient wieder auf dem OPTisch.“Weil er in der Zwischenzeit an seinem Leben nichts geändert hatte. Das aber tat Michalsen mit dem seinigen. An einem Tag vor 14 Jahren ging er in ein Restaurant, bestellte sich ein Stück Kalbfleisch und dazu ein Glas Rotwein. „Das habe ich richtig zelebriert.“Denn es sollte sein letztes Stück Fleisch sein. Nicht zuletzt für seine Mutter war der Einschnitt ein Schock. „Immer wenn ich nach Bad Waldsee kam, hat sie für mich Schweinebraten mit Spätzle gemacht. Doch damit war Schluss. Das hat sie traurig gemacht, was mir leid tat.“Damals hat er erfahren, wie schwer es fallen kann, auf Rituale und Esskultur zu verzichten. Dadurch erklärt sich auch die Völlerei auf den Adventsmärkten, das palettenweise Angebot an Schokolade zu Weihnachten und Ostern, der Konsum gehört für uns dazu. Und mag punktuell auch wenig schaden. „Natürlich macht der Verzehr von Fleisch und Wurst nicht automatisch krank, und niemand fällt tot vom Stuhl, wenn er eine Currywurst isst“, so Michalsen. Ein hoher Fleischkonsum sei aber nun mal verantwortlich für Krankheiten wie Herzinfarkt, Schlaganfall, Diabetes,
Bluthochdruck und Arthrose, für Arthritis bis hin zu Demenz und Krebserkrankungen. „Dauerhafter Fleischkonsum ist schädlich, daran gibt es nichts zu rütteln.“
Weil der Mensch für diese Mengen nicht angelegt ist, weil seine Biochemie auf einem genetischen Programm fußt, das vor zwei bis drei Millionen Jahren entstand, als der Homo Sapiens umherzog und aß, was er kriegen konnte. „Hunger war für unseren Körper über Jahrmillionen ein täglicher Begleiter“, erklärt Michalsen. Enthaltsamkeit könne daher noch heute Wunder wirken. „Durchs Fasten verbessern sich alle Stoffwechselparameter in unseren Organen und Geweben in beeindruckender Weise. Diesen lebensverlängernden Effekt schafft kein Medikament.“Darüber hinaus empfiehlt er mediterrane Kost, frisches Gemüse und Obst, Beeren, Nüsse, Olivenöl, Vollkornbrot und nudeln, eben Naturkost statt Fertiggerichte. Neu ist diese Botschaft nicht. Doch inzwischen zeigt sie auch Wirkung.
So sagt die österreichische Ernährungswissenschaftlerin Hanni Rützler in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“: „Der soziale Druck, sich besser und gesünder zu ernähren, nimmt zu.“Statt „Man ist, was man isst“, würde es heute heißen: „Man ist, was man nicht isst.“
Dass trotzdem Zuckerberge und Kalorienbomben noch immer inflationär ihre Abnehmer finden, erklärt sich für Michalsen mit der Trägheit des Menschen. „Das ist wie mit dem CO2Ausstoß“, sagt er. „Jeder will ihn verringern. Dennoch wurden noch nie so viele SUVs verkauft.“Genauso sei es die eine Sache, sich ein Ernährungsbuch zu kaufen, die andere, die Inhalte auch umzusetzen. Wandel brauche nun mal Zeit, aber er komme ganz sicher: „Die Menschen spüren, dass sie was ändern sollten.“
Wohl wahr, auch wenn sich dieses Gespür bei einem Gang über den Weihnachtsmarkt deutlich eintrübt. Die entsprechenden Antennen während der besinnlichen Tage eingefahren werden. Es sei denn, man ist Naturheilkundler, bei dem an Heiligabend eigentlich was auf den Tisch kommt?
Michalsen lächelt, die Minestrone hat ihm bestens geschmeckt. Er ist mit einer Italienerin aus dem Trentino in den Dolomiten verheiratet, wo das Paar Weihnachten verbringt. „Die Verwandtschaft bereitet ein vegetarisches Menü zu.“Mit Antipasti als Vorspeise, mit Focaccia und Oliven, etwas Pizza, gegrilltem und eingelegtem Gemüse. Auch gibt es die obligatorische Pasta, vielleicht mit Pilzen oder Trüffel. Als Fleischersatz wird überbackenes Seitan oder Tofu serviert. „Und zum Schluss eine süße Nachspeise.“Womöglich eine Polenta fritta mit Amarenakirschen. Oder süße RicottaGnocchi mit Beeren. Wie auch immer, klingt doch ganz lecker. Oder etwa nicht?
„Unsere heutigen Ernährungsgewohnheiten sind regelrecht entgleist.“Andreas Michalsen
„Dauerhafter Fleischkonsum ist schädlich, daran gibt es nichts zu rütteln.“Andreas Michalsen