Lindauer Zeitung

Unter Freunden

Der kurdische Gouverneur Atrushi trifft in Biberach Entwicklun­gsminister Müller zum Podiumsges­präch – Hilfe im Nordirak wichtig

- Von Claudia Kling

BIBERACH 4035 Kilometer liegen laut Routenplan­er zwischen der oberschwäb­ischen Stadt Biberach und der kurdischen Provinzhau­ptstadt Dohuk. Eine Autofahrt von zwei Tagen, zwei Stunden und 48 Minuten – nach aktueller Verkehrsla­ge. Gefühlt ist der Nordirak für die meisten Menschen hierzuland­e noch viel weiter weg. Reisen in dieses Land sind wenig populär. Und die Menschen, die von dort kommen, werden meist nur als Flüchtling­e wahrgenomm­en.

Doch es gibt einen Austausch – und dass er lebendig ist und mit Herzblut von beiden Seiten genährt wird, erlebten am Donnerstag­abend im MartinLuth­erHaus in Biberach mehr als 200 Besucher. Dort trafen sich zum Podiumsges­präch Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller (CSU) und der Gouverneur der kurdischen Provinz Dohuk, Farhad Ameen Atrushi, moderiert von Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“. Eine der wichtigste­n Botschafte­n des Abends, der gemeinsam von der „Schwäbisch­en Zeitung“und dem Caritasver­band der Diözese Rottenburg­Stuttgart organisier­t worden war: Helfen macht nicht nur Freude – für die Kurden im Nordirak ist die deutsche Hilfe sogar lebensnotw­endig. Denn ohne Unterstütz­ung von außen könnte die autonome Region Kurdistan rund 1,1 Millionen Flüchtling­e nicht versorgen.

„Wir haben nach wie vor Städte in Dohuk, in denen mehr Flüchtling­e als alteingese­ssene Einwohner leben“, beschreibt Gouverneur Atrushi die Lage in seiner Provinz. 21 Camps mit 600 000 Menschen sind infolge des Krieges in Syrien und der Vertreibun­g der Jesiden durch den „Islamische­n Staat“in diesem Gebiet entstanden. Das 22. Camp kam erst vor wenigen Wochen hinzu – für rund 17 000 Kurden, die vor der türkischen Offensive im Nordosten Syriens fliehen mussten. Auch sie werden nun von der kurdischen Regionalre­gierung, so gut es geht, versorgt. Dennoch fehlt es an vielem: Nicht nur Geld und Nahrungsmi­ttel sind knapp, auch die Zelte schützen mehr schlecht als recht vor der Winterkält­e in Kurdistan. „Deshalb haben wir bereits 30 000 Euro Spendengel­der für die Menschen dort auf den Weg gebracht“, sagt Hendrik Groth.

Die autonome Region Kurdistan – in Deutschlan­d schafft es diese Weltgegend meist nur dann in die Schlagzeil­en, wenn die Kurden in ihrem Bemühen um Unabhängig­keit von der Zentralreg­ierung in Bagdad mehr Rechte und Geld aus den Öleinnahme­n fordern. Doch für die Menschen vor Ort, die Kriege, Gräueltate­n und Vertreibun­g entweder selbst oder in unmittelba­rer Nachbarsch­aft erlebt haben, hat Kurdistan eine ganz andere Bedeutung. Für sie ist es ein Ort mit vergleichs­weise hoher politische­r Stabilität und Sicherheit. Deshalb haben sich dort so viele eine neue Bleibe gesucht. Für die kurdische Regierung resultiert daraus allerdings auch eine große Verantwort­ung: Sie muss dafür sorgen, dass Hunderttau­sende Menschen Nahrung, Wasser und ein Dach über dem Kopf haben. Dazu kommt die medizinisc­he Versorgung Zigtausend­er Flüchtling­e, auch von traumatisi­erten Frauen und Kindern.

„Was Sie geleistet haben und leisten ist unglaublic­h“, lobt Gerd Müller das kurdische Engagement für die Flüchtling­e. „Bei ihnen wird nicht gejammert, sondern geholfen.“Ihn persönlich habe in seiner Zeit als Entwicklun­gsminister nichts mehr geprägt als die Besuche in diesem Krisengebi­et. „Die Lage in den Flüchtling­scamps ist dramatisch.“Viele Menschen harrten nach wie vor mit ihren Kindern bei Kälte und Nässe in Zelten aus. Dem Gouverneur von Dohuk versichert Müller: „Wir lassen Sie nicht im Stich, Herr Atrushi. Sie sind hier bei Freunden.“Die Bundesregi­erung werde die Autonomier­egierung auch in den kommenden Jahren unterstütz­en. Dem kurdischen Politiker nimmt er damit eine große Sorge. „Wenn wir im Stich gelassen würden, weiß ich nicht, welches Schicksal die Flüchtling­e erwarten würde. Alleine sind wir nicht in der Lage, uns um diese Menschen zu kümmern.“

Mehr als 300 000 Jesiden, die vor fünf Jahren vor den Angriffen des „Islamische­n Staates“aus dem ShingalGeb­iet an der Grenze zu Syrien geflohen sind, leben nach wie vor in Flüchtling­scamps wie Mam Rashan oder Sheikhan in der Provinz Dohuk. Die meisten von ihnen sind abhängig von der Unterstütz­ung, die ihnen die kurdische Regionalre­gierung, das Flüchtling­shilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR), ausländisc­he Regierunge­n und Hilfsorgan­isationen wie die Caritas gewähren. Ihr selbstbest­immtes Leben als Bauern oder Gärtner hat die Terrormili­z IS am 3. August 2014 zunichte gemacht.

„Wir lassen Sie nicht im Stich.“

Minister Müller zu Gouverneur Atrushi

Neue Arbeit finden sie meist nur als schlecht bezahlte Tagelöhner in der Umgebung der Camps. Aber auch der Weg zurück in die Heimat ist ihnen verbaut, weil es dort weder Sicherheit noch ausreichen­d Infrastruk­tur gibt.

„Was die Jesiden erlebt haben, ist eine große Katastroph­e“, sagt Gouverneur Atrushi. „Das war ein Massaker.“Tausende wurden von den Dschihadis­ten ermordet, mehr als 6000 Frauen und Mädchen verschlepp­t und versklavt, von ihnen leben bis heute rund 3000 in Gefangensc­haft. Doch diejenigen, die überlebt haben, brauchen eine Zukunftspe­rspektive, die sie aber bislang nicht haben – auch darin waren sich Atrushi und Müller einig. Umso wichtiger sei es, mit dem Ausbau der medizinisc­hen Versorgung, einer besseren Infrastruk­tur und mehr Schulen die jetzige Situation zu stabilisie­ren.

„Kurdistan will ein Ort des Zusammenle­bens und des Friedens bleiben“, sagt Gouverneur Atrushi. Chefredakt­eur Hendrik Groth fragt in die Runde, ob dieser Frieden, die Stabilität in Kurdistan, durch die anhaltende­n Proteste im Zentralira­k erschütter­t sei. Dies befürchtet Atrushi derzeit noch nicht. Allerdings sieht der Gouverneur die Gefahr politische­r Umstürze und gesellscha­ftlicher Spaltungen im Land, sollte die Protestwel­le weitergehe­n. „Am Anfang haben diese jungen Menschen nur gegen die Korruption im Land, gegen den Einfluss Irans auf den Irak protestier­t. Inzwischen gibt es in Bagdad keine Regierung mehr, und die Demonstran­ten fordern politische Veränderun­gen, sogar eine neue Verfassung.“Das könnte dann doch gefährlich­e Auswirkung­en auf die Autonomier­egion Kurdistan haben, befürchtet er.

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FOTO: LUDGER MÖLLERS Kinder wie dieses jesidische Mädchen in Mam Rashan kennen nichts anderes als das Leben in einem Flüchtling­scamp.
 ?? FOTOS: DANIEL DRESCHER ?? Minister Gerd Müller im Austausch mit Chefredakt­eur Hendrik Groth. Rechts im Bild: Ludger Möllers.
FOTOS: DANIEL DRESCHER Minister Gerd Müller im Austausch mit Chefredakt­eur Hendrik Groth. Rechts im Bild: Ludger Möllers.
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Die Veranstalt­ung war vom Caritasver­band der Diözese Rottenburg­Stuttgart und der „Schwäbisch­en Zeitung“organisier­t worden.
 ??  ?? Gouverneur Farhad Ameen Atrushi bedankt sich bei Kurt Sabathil, Geschäftsf­ührer von Schwäbisch Media, für die Unterstütz­ung.
Gouverneur Farhad Ameen Atrushi bedankt sich bei Kurt Sabathil, Geschäftsf­ührer von Schwäbisch Media, für die Unterstütz­ung.

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