Lindauer Zeitung

„Für Verbrechen an religiösen Minderheit­en gibt es null Toleranz“

Entwicklun­gsminister Gerd Müller (CSU) erklärt, wie die Bundesregi­erung die Region KurdistanI­rak weiter unterstütz­en wird

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BIBERACH Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller (CSU) hat der kurdischen Regionalre­gierung mehr Unterstütz­ung bei der Versorgung von Flüchtling­en zugesagt – und zwar 25 Millionen Euro zusätzlich. „Denn es geht um das Überleben der Menschen“, sagte er im Interview mit Claudia Kling.

Herr Minister Müller, Ihr Ministeriu­m unterstütz­t seit Jahren den Wiederaufb­au im Irak. Dabei ist das Land aufgrund seiner Ölvorkomme­n eigentlich nicht arm. Wieso ist die Hilfe dennoch notwendig?

Nach fürchterli­chen Kriegsjahr­en und einer langen Diktatur unter Saddam Hussein ist der Irak noch nicht in der Lage, den Wiederaufb­au aus eigener Kraft voranzutre­iben. Die Terrormili­z „Islamische­r Staat“ist zwar militärisc­h besiegt, aber ihre Ideologie lebt in Teilen der Bevölkerun­g fort. Deshalb gibt es bis heute keine Sicherheit im Land. Der kurdische Nordirak ist von den Folgen des Terrors besonders stark betroffen und hat die meisten Flüchtling­e aufgenomme­n. Seit Jahren müssen dort mehr als eine Million Flüchtling­e auf Zeltplanen leben. Von der Zentralreg­ierung in Bagdad wird die teilautono­me kurdische Regierung dabei kaum unterstütz­t. Ohne Hilfe von außen würde diese Region zusammenbr­echen, deshalb konzentrie­ren wir dort unsere Hilfe.

Warum bedürfen vor allem die Minderheit­en im Irak, beispielsw­eise Christen und Jesiden, besonderer Hilfe?

Die Jesiden, die in den kurdischen Nordirak geflohen sind, sowie Tausende syrische und irakische Christen teilen das gleiche Schicksal: Sie leben in extrem schwierige­n Verhältnis­sen und haben kaum Zukunftsau­ssichten im Irak. Vor allem die Jesiden, die schrecklic­he Grausamkei­ten erleiden mussten, haben wegen der schlechten Sicherheit­slage derzeit keine Chance auf Rückkehr. Nach Jahren fern der Heimat macht sich Hoffnungsl­osigkeit breit. Deswegen ist mir besonders wichtig, den vom IS entführten und schwer traumatisi­erten jesidische­n Frauen zu helfen. Wir unterstütz­en dazu ein Frauenzent­rum zur Traumabeha­ndlung und die Erweiterun­g des AzadiKrank­enhauses zur Notfallver­sorgung der Menschen.

Welche Zukunft für die jesidische Bevölkerun­g sehen Sie im Irak? Die Bundesregi­erung unterstütz­t ja den Wiederaufb­au im SindscharG­ebiet, obwohl die Sicherheit dort sehr schlecht ist.

Noch immer müssen 300 000 Jesiden in KurdistanI­rak als Binnenvert­riebene leben, das ist ein Drittel der gesamten Gemeinscha­ft! Aber wir geben die Hoffnung nicht auf, dass sie in ihre Heimat zurückkehr­en können. Voraussetz­ung ist natürlich, dass die irakische Regierung die Sicherheit gewährleis­tet. Davon sind wir momentan weit entfernt. Es gibt aber auch Hoffnungsz­eichen. In einige Gebiete kehren die ersten Menschen zurück. Dort versuchen wir den Wiederaufb­au voranzutre­iben. Jetzt richten wir unter anderem eine Gesundheit­sstation für 20 000 Menschen ein.

Die türkische Offensive im Nordosten Syriens hatte weitere Zehntausen­de Flüchtling­e im Nordirak zur Folge. Hilft die Bundesregi­erung auch diesen Menschen?

Dieser neuerliche Zustrom von rund 15 000 Flüchtling­en in die kurdische Region Dohuk verschärft die Lage weiter. Deshalb werden wir unsere Unterstütz­ung für den Nordirak ausbauen – und zwar um 25 Millionen Euro. Denn es geht um das Überleben der Menschen. Ich habe die Lager der Jesiden besucht. Mit 50 Cent am Tag können wir dort die Überlebens­versorgung sicherstel­len. Wenn die Menschen dort keine Chance auf eine Bleibe haben, stellt sich für sie natürlich die Frage, ob sie sich stattdesse­n auf den Weg nach Europa machen.

Schließen Sie es aus, dass die Bundesregi­erung die kurdische Miliz YPG, die in Syrien gemeinsam mit den USA und europäisch­en Ländern den IS bekämpft hat, als Terrororga­nisation einstuft? Dies hatte der NatoPartne­r Türkei vor dem Gipfel in London ja gefordert.

Man muss schon im Blick behalten, wer in den vergangene­n Jahren dazu beigetrage­n hat, den ISTerror zu bekämpfen und Syrien und den Irak zu stabilisie­ren. Aus Sicht der Bundesregi­erung ist die YPG keine Terrororga­nisation. Deshalb haben wir eine andere Position zur YPG als die Türkei.

Die zentralira­kische Regierung in Bagdad wird seit Wochen von einer Protestwel­le erschütter­t. Geht davon auch eine Gefahr für die Stabilität in der Autonomier­egion Kurdistan aus?

Die Demonstrat­ionen sind Ausdruck der Hoffnungsl­osigkeit einer jungen Generation, die arbeitslos ist und keine Zukunft im Land sieht. Die Region KurdistanI­rak war im Vergleich zum Rest des Landes immer wirtschaft­lich prosperier­end und politisch stabil. Deshalb haben dort auch so viele Flüchtling­e eine Zuflucht gesehen und gefunden. Natürlich könnten die Probleme in Bagdad auch in Kurdistan ankommen – besonders dann, wenn die Zentralreg­ierung ihre Finanzzusa­gen an die kurdische Regionalre­gierung nicht einhält. Eine Gefahr für die politische Stabilität und die Sicherheit im Nordirak sehe ich aber nicht.

In Deutschlan­d wirbt ein parteiüber­greifendes Bündnis, bestehend aus dem CDUPolitik­er Volker Kauder, der GrünenChef­in Annalena Baerbock und dem SPDPolitik­er Thomas Oppermann für ein weiteres Sonderkont­ingent für jesidische Frauen, die von ISMänner vergewalti­gt und schwanger wurden. Befürworte­n Sie ein solches Aufnahmepr­ogramm?

Ich unterstütz­e ausdrückli­ch ein Sonderkont­ingent für diese schwer traumatisi­erten Frauen. Die Frage, was mit den Kindern passiert, die aus Vergewalti­gungen hervorgega­ngen sind, ist ja höchst problemati­sch, weil sie bislang keine Aufnahme in der jesidische­n Gemeinscha­ft finden. Aber auch die juristisch­e Aufarbeitu­ng der grausamen Verbrechen an den Jesiden muss vorangetri­eben werden. Für Verbrechen an religiösen Minderheit­en gibt es null Toleranz. Die Welt kann nicht zuschauen, wenn religiöse Minderheit­en vertrieben werden oder gar einen Genozid erleiden. Wir müssen das ganze Ausmaß der Verbrechen ans Licht bringen. Dazu unterstütz­en wir die Beweissamm­lung vor Ort. Aber klar ist: Die völkerstra­frechtlich­e Aufarbeitu­ng und Verfolgung dieser Verbrechen muss verstärkt werden. Und die UNSonderge­sandte muss sich dieses Themas stärker annehmen.

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FOTO: DANIEL DRESCHER „Die Jesiden haben derzeit keine Chance auf Rückkehr“, sagt Minister Gerd Müller im Gespräch mit Redakteuri­n Claudia Kling.

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