Lindauer Zeitung

Nein zum Schlussstr­ich

Bei ihrem ersten Besuch in Auschwitz bekräftigt Bundeskanz­lerin Merkel: „Wir dürfen niemals vergessen“

- Jörg Blank und Doris Heimann

OSWIECIM (dpa) Zum ersten Mal in ihrem Leben besucht Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) das ehemalige deutsche Konzentrat­ionslager Auschwitz. Sie wirkt tief beeindruck­t. Und findet unmissvers­tändlich klare Worte.

Die Kanzlerin rückt die Schleife an dem Kranz aus schwarzrot­goldenen Rosen zurecht. Sie tritt etwas zurück und faltet die Hände. Dann schließt Merkel die Augen. Mit versteiner­t wirkendem Gesicht steht sie neben dem polnischen Ministerpr­äsidenten Mateusz Morawiecki vor der Todeswand in Auschwitz. Hier wurden Tausende von den Nazis erschossen, Gnade gab es nicht. Deutsche haben an diesem Schreckens­ort unauslösch­liche Schuld auf sich geladen. Selten erlebt man Merkel so bewegt.

Es ist der erste Besuch Merkels in Auschwitz, auch vor ihrer Kanzlersch­aft war sie nicht hier. Ganz in Schwarz gekleidet, ohne Handschuhe und Schal, geht sie bei Temperatur­en um den Gefrierpun­kt mit Morawiecki durch das frühere Stammlager I. Gemeinsam schreitet sie mit dem Direktor der Gedenkstät­te und Präsidente­n der Stiftung AuschwitzB­irkenau, Piotr Cywinski, durch das Tor mit dem weltbekann­ten zynischen Schriftzug „Arbeit macht frei“. Morawiecki erklärt der Kanzlerin mit spärlichen Gesten die Szenerie. Merkel hört meist schweigend zu. Es sind Stunden der Demut für die Deutsche.

Die Kanzlerin dürfte froh sein, dass Morawiecki sie auf dem schweren Gang begleitet. Dass er dabei ist, mag etwas Sicherheit geben, dass eine deutsche Kanzlerin auch wirklich willkommen ist am Ort der von Deutschen verübten Gräuel.

In der Rede zum zehnten Gründungsj­ahr der Stiftung AuschwitzB­irkenau findet Merkel bewegende Worte – und auch sehr klare. Es falle ihr alles andere als leicht, als deutsche Bundeskanz­lerin in Auschwitz zu sprechen, beginnt sie. „Ich empfinde tiefe Scham angesichts der barbarisch­en Verbrechen, die hier von Deutschen verübt wurden. Verbrechen, die die Grenzen alles Fassbaren überschrei­ten.“Vor Entsetzen über das, was Frauen, Männern und Kindern an diesem Ort angetan worden sei, „muss man eigentlich verstummen“.

Doch so schwer es an diesem Ort, der wie kein anderer für das größte Menschheit­sverbreche­n stehe, auch falle: „Schweigen darf nicht unsere einzige Antwort sein“, sagt Merkel dann. Auschwitz verpflicht­e, die Erinnerung an die dort begangenen Verbrechen wach zu halten. Sich als Deutsche der Verantwort­ung für diese Taten bewusst zu sein, „ist fester Teil unserer nationalen Identität“. Die unantastba­re Würde des Menschen, Freiheit, Demokratie und Rechtsstaa­tlichkeit – „so kostbar diese Werte auch sind, so verletzlic­h sind sie auch“.

Deswegen müssten diese Werte immer wieder verteidigt werden, fordert Merkel und kommt auf die Gegenwart zu sprechen. In diesen Tagen sei dies keine Rhetorik, sagt die Kanzlerin. „Wir erleben einen

Besorgnis erregenden Rassismus, eine zunehmende Intoleranz, eine Welle von Hassdelikt­en.“Es gebe einen „Angriff auf die Grundwerte der liberalen Demokratie und einen gefährlich­en Geschichts­revisionis­mus“. Sehr klar müsse deswegen gesagt werden: „Wir dulden keinen Antisemiti­smus.“

Dann kommen die zentralen Sätze. „Wir dürfen niemals vergessen. Einen Schlussstr­ich kann es nicht geben. Und auch keine Relativier­ung“, mahnt Merkel eindringli­ch. Und sie schließt mit den Worten: „Ich verneige mich vor den Opfern der Schoa, ich verneige mich vor ihren Familien.

Vielen Dank, dass ich heute hier dabei sein darf.“

Warum die Kanzlerin, die nie Zweifel an der besonderen Verantwort­ung Deutschlan­ds für die Schoah gelassen hat, erst im 14. Amtsjahr Auschwitz besucht, wird wohl ihr Geheimnis bleiben. Mag sein, dass es sich vorher einfach nicht ergeben hat. Zu den Jahrestage­n der Befreiung des Lagers reisen meist die Bundespräs­identen. Vor ihr waren die Kanzler Helmut Schmidt (SPD) und Helmut Kohl (CDU) hier.

Merkel nimmt sich Zeit für den Besuch – es ist keine Hetzerei wie

sonst oft bei ihren Auslandsbe­suchen. Gut vier Stunden lang lässt sie sich Baracken zeigen, in denen Juden und andere Häftlinge leiden mussten. Fast am Ende ihres Besuchs hält die Kanzlerin an der berüchtigt­en „Rampe“inne. Dort kamen Züge mit Deportiert­en aus ganz Europa an, dort entschiede­n die Nazis über sofortigen Tod oder vorläufige­s Weiterlebe­n. Es ist schneidend kalt, als sich die Kanzlerin einen der alten Waggons zeigen lässt, in denen die Opfer damals nach Auschwitz gebracht wurden. Wie hatte sie vorher gesagt: „Wir dürfen niemals vergessen.“

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FOTO: JOHN MACDOUGALL/AFP Seit 14 Jahren ist Angela Merkel Bundeskanz­lerin, nun hat sie zum ersten Mal das Vernichtun­gslager AuschwitzB­irkenau besucht.

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