Ein Staatenbund aus zwei ungleichen Partnern
Russland und Weißrussland verbindet seit 20 Jahren eine Union – Der Minsker Staatschef Lukaschenko will sich von Moskau aber nicht dominieren lassen
MOSKAU Der Zerfall der Sowjetunion war genau acht Jahre her. Da unterzeichneten die Präsidenten von Russland und Weißrussland am 8. Dezember 1999 – einen Unionsvertrag. Es ging um die vollständige Integration beider Staaten: gemeinsame Wirtschaft, Verteidigung, Außenpolitik und schließlich eine politische Vereinigung Russlands und Weißrusslands.
Alexander Lukaschenko, damals wie heute Staatschef des kleineren Partners Weißrussland, hoffte bei der Vertragsunterzeichnung, an die Spitze dieses neuen Staats rücken zu können. Der russische Präsident hieß damals Boris Jelzin; Lukaschenkos Hoffnung schien nicht ganz abwegig. Bei Jelzins Nachfolger kann sich Lukaschenko diesen Plan abschminken. An Wladimir Putin will Lukaschenko Weißrusslands Souveränität deswegen nicht abgeben – jedenfalls nicht so ohne Weiteres.
An diesem Sonntag feiert die Staatsunion ihr 20jähriges Bestehen. In der Wirklichkeit ist sie aber bis heute sehr begrenzt. Eine politische Integration ist für das mächtigere Moskau vorteilhafter als für Minsk. Einige Experten und Oppositionelle vermuten sogar, Putin könnte die Vereinigung nutzen, um 2024 der Chef des neuen Staates zu werden – und so die heutige russische Verfassung umgehen, die ihm eine weitere Amtszeit verwehrt. Nach Ansicht von Politikwissenschaftlerin Ekaterina Schulman ist das aber unwahrscheinlich. Selbst ein weiterer außenpolitischer „Sieg“Putins, so Schulman, würde sein Festhalten an der Macht vor der Bevölkerung nicht mehr legitimieren.
Lukaschenko versucht seinerseits, aus dem russischen Ziel eines engeren Bündnisses Nutzen zu ziehen. Immer wenn der Kreml erklärt, die Zeit für eine neue Stufe der Integration sei gekommen, verlangt Lukaschenko im Gegenzug eine verstärkte wirtschaftliche Vorzugsbehandlung. Ihm geht es vor allem darum, Öl und Gas zum russischen Inlandspreis zu bekommen. Ist Moskau dazu nicht bereit, zeigt Lukaschenko, dass er auch andere „Freunde“hat – sogar im Westen, obwohl er dort als „der letzte Diktator Europas“gilt. Im September haben Weißrussland und die USA nach elf Jahren Pause wieder Botschafter ausgetauscht.
Eine wirkliche Integration scheitere schon daran, dass es an zwischenstaatlichen Institutionen fehlt, die gemeinsame Spielregeln bestimmen würden, schreibt der weißrussische Politikwissenschaftler und Journalist Artjom Shraibman in einem Artikel für das Moskauer Carnegie Center. Offiziell hat Union aus Russland und Weißrussland zwar ein Parlament, Minister, Staatsrat und andere Organe – im Vergleich zu den nationalen Regierungen in Moskau und Minsk spielen sie aber keine Rolle. Denn die gemeinsamen Institutionen müsste jemand leiten – doch darauf können sich Putin und Lukaschenko nicht einigen, sagt Shraibman.
Historiker Alexei Miller von der Europäischen Universität Sankt Petersburg widerspricht. „Das Integrationsprojekt sieht heute keine politische Fusion von Russland und Weißrussland vor, aber das heißt nicht, dass es wertlos ist. Ja, die Weißrussen wollen nicht mit den Russen in einem Staat leben. Aber wollen das die Polen und die Deutschen? Auch nicht, und trotzdem sagt niemand, die europäische Integration sei schief gelaufen“, sagt Miller im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“.
In einigen Bereichen habe man viel erreicht: die Zollunion funktioniere, die Grenze sei offen und die Verteidigungssysteme aufeinander abgestimmt. Historisch seien Russland und Weißrussland ohnehin sehr eng verbunden, außerdem gebe es mit Weißrussland keinen Sprachkonflikt – anders als zum Beispiel in der Ukraine. „Weißrussisch ist die Staatssprache, aber mehr als 90 Prozent der Bevölkerung, einschließlich Lukaschenko, sprechen Russisch, sagt Miller.
Zu Europa hat Weißrussland aber ebenfalls historische Verbindungen – bis zum Zweiten Weltkrieg gehörten der westliche Teil Weißrusslands sowie die Westukraine zu Polen. Diese Zeit sei ein wichtiger Grund dafür, dass sich in der Ukraine und in Weißrussland eigene Identitäten entwickelten, erläutert der Historiker Miller. Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Polen seien damals sehr angespannt gewesen. Es habe Kämpfe um Land gegeben, radikale Ukrainer hätten Polen und moderate Landsleute terrorisiert. In Weißrussland sei es in dieser Zeit friedlicher gewesen.
Nach dem Zerfall der Sowjetunion hätten die Ukraine und Weißrussland dann sehr unterschiedliche Strategien angewandt, um eine neue nationale Identität zu entwickeln. Ein wesentlicher Teil von der ukrainischen Identität stütze sich auf die Gegenstellung mit einem Feind – Polen, Sowjets, Russland – das hängt von der Zeit ab. Die Weißrussen ihrerseits betonen immer, sie hätten keine Feinde, alle könnten ihre Freunde sein. „Aber Lukaschenko stellt fest, dass Europa ihn als Freund nicht akzeptiert. Die Weißrussen würden der EU wohl gerne beitreten – wer würde das nicht? Aber sie sind nicht bereit, so einen hohen Preis dafür zu zahlen wie die Ukraine.“