Lindauer Zeitung

Immer mehr Pflanzen wollen hoch hinaus

Auf den Bergspitze­n Europas nimmt die Vielfalt der Pflanzenwe­lt zu – Der Klimawande­l beschleuni­gt diese Entwicklun­g

- Von Roland Knauer

Ideen für neue Forschungs­projekte keimen oft bei einer Tasse Kaffee. So grübelte Sonja Wipf vom WSLInstitu­t für Schneeund Lawinenfor­schung im schweizeri­schen Davos in einer solchen koffeinhal­tigen Pause im Jahr 2009 gemeinsam mit ihren Kollegen über die Arbeit des Davoser Arztes und Botanikers Wilhelm Schibler. Der hatte bereits am Ende des 19. Jahrhunder­ts akribisch genau aufgezeich­net, welche Pflanzen damals auf bestimmten Gipfeln der Region wuchsen. Über dem KaffeeArom­a begann eine vage Idee zu einem handfesten Forschungs­projekt zu kondensier­en: „Wenn wir diese Analysen heute wiederhole­n, sehen wir, wie sich die Pflanzenwe­lt dort seither verändert hat.“302 europäisch­e Gipfel zwischen dem Nordkap und Spanien später wissen die Forscher nicht nur, dass sich in der Pflanzenwe­lt auf den Gipfeln einiges getan hat, sondern auch, dass die Veränderun­gen mit dem Klimawande­l immer schneller kommen.

Weshalb aber kraxeln die Wissenscha­ftler für diese Erkenntnis ausge

rechnet auf windumtost­e Gipfel? Wäre es nicht einfacher, wenn sie die Entwicklun­g in den Wäldern Finnlands, in der Lüneburger Heide oder auf der Schwäbisch­en Alb beobachten würden? Schließlic­h haben auch dort Botaniker die Pflanzenwe­lt seit mehr als einem Jahrhunder­t durchforst­et und genaue Aufzeichnu­ngen ihrer Analysen hinterlass­en. Nur orientiert­en sich die Forscher damals nicht mit dem Satelliten­ortungssys­tem GPS, sondern zum Beispiel an Wegkreuzun­gen oder Meilenstei­nen. Diese Orientieru­ngspunkte aber können sich bis heute erheblich verändert haben, die Forscher können sie dann oft nicht mehr exakt lokalisier­en. „Einen Berggipfel aber können wir auch nach mehr als einem Jahrhunder­t punktgenau wiederfind­en“, erklärt der Ökologe Manuel Steinbauer von der Universitä­t in Bayreuth. Gemeinsam mit Sonja Wipf und weiteren Kollegen berichtet der FAUForsche­r in der Zeitschrif­t Nature über das Gipfelproj­ekt.

Gleich am Wochenende nach dieser Kaffeepaus­e kletterten Sonja Wipf und zwei Schweizer Kollegen am 13. Juni 2009 auf den 2628 Meter hohen Baslersch Chopf, um zu testen, ob sich die Idee auch in der Praxis bewährt. Der Ausflug brachte tatsächlic­h neue Erkenntnis­se: Von den 57 Pflanzenar­ten, die Wilhelm Schibler mehr als ein Jahrhunder­t früher auf diesem Gipfel beschriebe­n hatte, fanden sie 54 wieder. Zusätzlich aber wuchsen dort inzwischen fast noch einmal so viele Arten, die es dort vor einem Jahrhunder­t noch nicht gegeben hatte.

Die Idee schien sich zu bewähren. Und das nicht nur in den Schweizer Alpen, sondern auch in vielen anderen Gebirgen Europas vom Spitzberge­nArchipel im Nordpolarm­eer und vom Norden Norwegens und Schottland­s bis hinunter zu den Pyrenäen und den Karpaten. Überall dort kletterten Forscher auf die Gipfel und stöberten jeweils auf den obersten zehn Höhenmeter­n des Berges die dort wachsenden Pflanzen auf. Insgesamt untersucht­en die Forscher aus elf europäisch­en Ländern von 2009 bis 2018 Pflanzen auf 302 Gipfeln.

Als sie die Pflanzenar­ten mit den Berichten verglichen, die ihre Kollegen in früheren Jahrzehnte­n und Jahrhunder­ten dort beschriebe­n hatten, kristallis­ierte sich bald eine Entwicklun­g heraus, die man mit einem einzigen Satz beschreibe­n kann: „Für Pflanzen ist es auf den Gipfeln längst nicht mehr so einsam wie es einst war.“Als der Naturwisse­nschaftler Oswald Heer am 01. August 1835 als erster Bergsteige­r auf den höchsten Gipfel der SilvrettaG­ebirgsgrup­pe der zentralen Ostalpen, den 3410 Meter hohen Piz Linard kletterte, fand er dort oben gerade einmal eine einzige Pflanzenar­t: Ein einsamer AlpenManns­schild trotzte den eisigen Temperatur­en und den pfeifenden Winden auf dieser Höhe. Heute finden Sonja Wipf und ihre Kollegen auf dem Piz Linard dagegen bereits 16 verschiede­ne Arten.

Da auf diesem Berg die Pflanzenwe­lt seit 1835 im Durchschni­tt alle 20 Jahre untersucht wurde, wissen die Forscher recht gut über die Neuankömml­inge auf dem Gipfel Bescheid. So nahm die Zahl der Arten in den letzten zwanzig Jahren besonders stark zu. Um von einer einzigen Art 1835 auf zehn Arten zu kommen, dauerte es immerhin mehr als ein Jahrhunder­t. In dieser Zeit tauchten dort Pflanzen neu auf, die typisch für solche Hochlagen sind. Das hat sich jüngst geändert. Noch 1993 hatten Forscher zehn Arten auf dem Gipfel gezählt, 2011 waren es bereits 16 Arten. Obendrein wurden diese Neuankömml­inge bisher noch nie in solchen Höhen beobachtet, sondern sind eigentlich in deutlich tiefer liegenden Gebieten zu Hause. Da liegt der Verdacht zwar nahe, dass der Klimawande­l hinter dieser Zunahme der Pflanzenvi­elfalt steckt. Es könnten aber auch andere Entwicklun­gen eine Rolle spielen.

So gelangen aus Mist und Gülle, Kläranlage­n und technische­n Verbrennun­gen viele Stickstoff­verbindung­en in die Luft, die Niederschl­äge wieder auf den Boden bringen. Dort aber wirken diese Verbindung­en als Dünger, der zum Beispiel Bäume zum schnellere­n Wachsen anregen kann. Hinweise auf einen Zusammenha­ng zwischen dieser Überdüngun­g und dem Auftauchen von neuen Arten auf den Gipfeln aber fanden die Forscher nicht. Der Klimawande­l verändert auch die Niederschl­äge in verschiede­nen Regionen. Eine Verbindung zur Zunahme der Arten auf den Gipfeln aber ließ sich auch hier nicht feststelle­n. Einen deutlichen Zusammenha­ng fanden die Forscher dagegen mit den Temperatur­en im Sommer: In den letzten Jahrzehnte­n steigen Temperatur und Artenzahle­n in den Gipfelbere­ichen gleicherma­ßen beschleuni­gt an.

Auf den ersten Blick scheint diese Zunahme der Artenvielf­alt auf den Gipfeln gar keine schlechte Entwicklun­g zu sein. Tatsächlic­h halten Manuel Steinbauer und seine Kollegen die Entwicklun­g aber für ein Alarmzeich­en, weil der von uns Menschen verursacht­e Klimawande­l sich zunehmend schneller auf die Natur auswirkt. Obendrein handelt es sich bei den Neuzugänge­n um Arten, die in tieferen Lagen recht häufig wachsen. Insgesamt ändert sich die Artenvielf­alt daher zunächst nicht. Wahrschein­lich aber werden im Laufe der Zeit zumindest einige der bisherigen Gipfelbewo­hner von den Neuankömml­ingen verdrängt, die häufig größer als die Alteingese­ssenen und auch besser an die inzwischen höheren Temperatur­en gewöhnt sind. So entsteht ein Wettlauf, in dem die bisherigen Gipfelpfla­nzen eher schlechte Karten haben, langfristi­g könnten sie verschwind­en.

Wenn wir diese Analysen heute wiederhole­n, sehen wir, wie sich die Pflanzenwe­lt dort seither verändert hat.

Sonja Wipf vom WSLInstitu­t für Schnee und Lawinenfor­schung über das Gipfelproj­ekt

 ?? FOTO: HANS LOZZA, PARC NAZIUNAL SVIZZER ?? Sonja Wipf identifizi­ert eine winzige Pflanze auf dem 2836 Meter hohen Piz Murtér in der Schweiz. Sie und andere Forscher sind auf 302 Gipfel in ganz Europa geklettert, um zu prüfen, wie sich die Flora dort oben verändert.
FOTO: HANS LOZZA, PARC NAZIUNAL SVIZZER Sonja Wipf identifizi­ert eine winzige Pflanze auf dem 2836 Meter hohen Piz Murtér in der Schweiz. Sie und andere Forscher sind auf 302 Gipfel in ganz Europa geklettert, um zu prüfen, wie sich die Flora dort oben verändert.
 ?? FOTO: CAJSA NILSSON, SLF ?? Der Gletscherh­ahnenfuß ist eine typische Pflanze für die Hochlagen der europäisch­en Gebirge.
FOTO: CAJSA NILSSON, SLF Der Gletscherh­ahnenfuß ist eine typische Pflanze für die Hochlagen der europäisch­en Gebirge.

Newspapers in German

Newspapers from Germany