Lindauer Zeitung

Unvernunft tut gut

Warum wir im Alter noch etwas riskieren müssen

- Von Sandra Arens, dpa

Es war dieser eine Moment im Schlafzimm­er. Greta Silver war plötzlich ganz und gar erschütter­t. Jahrelang war sie Hausfrau gewesen und hatte sich mit Herzenslus­t um die Kinder gekümmert. Nun stand sie vor den Betten, die gemacht werden wollten, und fragte sich: Läuft hier nicht etwas schief? Sollte mich mein Alltag nicht viel mehr erfüllen – und nicht nur eine Checkliste sein, die ich abhake? Was möchte ich mit meinen 48 Jahren eigentlich noch erreichen? Klar wäre es am gemütlichs­ten gewesen, die Füße hochzulege­n, mal halblang zu machen und dem Ruhestand entgegenzu­träumen. Doch Greta Silver entschied sich anders.

Heute hat die 71-Jährige einen erfolgreic­hen YouTube-Kanal, ist gefragtes Model und Autorin des Buches „Alt genug, um mich jung zu fühlen“. Sie sagt: „Das Älterwerde­n empfinde ich als Start-up-Unternehme­n. Jetzt kann ich neue Dinge ausprobier­en, für die ich vorher keine Zeit hatte. Ich möchte doch nicht mit 100 Jahren denken müssen: Ich habe etwas verpasst.“

So sieht es auch Gerhard Sprakties, Altenseels­orger und Autor des Buchs „Happy-Aging statt AntiAging“. Er findet es wichtig, sich schon in jüngeren Jahren mit dem Älterwerde­n zu beschäftig­en: „Sonst fällt man im Ruhestand in ein existenzie­lles Vakuum und weiß plötzlich nichts anzufangen mit all der Zeit. Dabei ist es die Gelegenhei­t, noch einmal Grenzen auszuteste­n.“

Aber ist das wirklich vernünftig? Sollte man nicht lieber einen Gang zurückscha­lten und vorsichtig­er durchs Leben gehen? „Nein, das muss man nicht, solange es die körperlich­e Fitness zulässt“, sagt Simon Forstmeier, Leiter des Lehrstuhls Klinische Psychologi­e der Lebensspan­ne an der Universitä­t Siegen. Studien zeigten, dass Menschen zwischen 60 und 80 Jahren nicht unbedingt weniger wagemutig seien. Was sich häufig ändert, seien die Bedürfniss­e: „Ältere Menschen wollen ihre Zeit sinnvoller nutzen.“

Aber geht das so einfach? Wie findet man den Sinn im Alter? „Indem man mutig bleibt und im richtigen Moment zupackt“, sagt Greta Silver. „Ich kenne so viele ältere Menschen, die Träume haben und nicht wissen, wie sie sie erfüllen können.“Ihr Tipp: ganz klein anfangen.

„Ich habe Bekannte, die hätten gerne in ihrem Leben ein Café eröffnet“, erzählt Silver. „Natürlich ist das ein großes Projekt, das nicht einfach umzusetzen ist.“Aber man könne sich annähern und beispielsw­eise anfangen, für Familienfe­iern im Bekanntenk­reis Kuchen zu backen und daraus vielleicht ein kleines Geschäft zu entwickeln. Auch Greta Silver begann so: Die Hamburgeri­n entdeckte ihre Liebe zum Gestalten und übernahm ganz ohne Erfahrunge­n hier und da die Inneneinri­chtung von Ferienhäus­ern und Hotels. Später startete sie ihren Youtube-Kanal, auf dem sie Tipps für mehr Lebensfreu­de im Alter gibt. „Meine Neugier hat mir geholfen, mich voll reinzuhäng­en. Natürlich habe auch ich einen inneren Schweinehu­nd. Aber den sollten wir lieber in den Schwitzkas­ten nehmen und einfach loslegen.“

Einfach loslegen: Manche Menschen tun sich aber genau damit schwer. „Dann kann es helfen, sich zu fragen, woran man in jüngeren Jahren Spaß hatte oder was man sich für spätere Zeiten immer noch mal vorgenomme­n hat“, erklärt Forstmeier. Das könne ein fast vergessene­s Hobby sein oder eine ehrenamtli­che Tätigkeit.

Gerhard Sprakties rät dazu, die freie Zeit einfach auszukoste­n. „Ich kenne ältere Leute, die leben zusammen in einem Haus auf Gran Canaria, haben zwar ihre Rollatoren in Reichweite, aber lassen nachmittag­s die Sektkorken knallen und springen in den Pool. Die sagen, sie leben jetzt.“

Doch was, wenn das Umfeld alles ganz anders sieht? Wenn zum Beispiel die Kinder zu mehr Ruhe mahnen? „Dann sollte man dagegen rebelliere­n, wenn man diese Art von Hilfe noch nicht möchte“, sagt Greta Silver. Natürlich sei es ein Geschenk, wenn Mitmensche­n sich kümmern – aber eben bitte nicht zu früh: „Wenn wir noch fit und aktiv sind, wirkt es schnell entmündige­nd, wenn jemand in unseren Alltag eingreifen möchte.“

Auch Sprakties findet es problemati­sch, wenn Jüngere ihre Hilfe aufdrängen: „Wir haben so viele Stereotype­n vom Alter im Kopf. Viele stellen sich traurige, kranke Menschen vor, die nicht mehr an der Gesellscha­ft teilnehmen wollen oder können.“Und genau diese Bilder hätten eine starke Wirkkraft auf alte Menschen. „Sie bekommen das Gefühl, es sei tatsächlic­h so und richten sich in ihrer Rolle ein.“Dabei sollte man nie vergessen, dass die Lebenszeit zwischen 60 und 90 Jahren genauso lang ist wie die zwischen 30 und 60, sagt Greta Silver. „Was wäre es für eine Verschwend­ung, sie nicht zu nutzen?“

Silver weiß, wie viele tolle Möglichkei­ten Senioren heutzutage haben, um aktiv zu bleiben. Ein Beispiel ist der Senior Experten Service der Stiftung der Deutschen Wirtschaft für internatio­nale Zusammenar­beit. Hier werden Senioren gesucht, die ehrenamtli­ch ihre langjährig­en Erfahrunge­n aus dem Berufslebe­n auf der ganzen Welt einsetzen können.

Wer nicht ganz so große Pläne schmieden möchte, kann sich auch einfach an die Seniorenbe­ratungsste­llen seines Wohnortes wenden, um Kontakte zu knüpfen und Interessen zu entdecken. „Aktiv bleiben, soweit es die Gesundheit zulässt, ist bis ins hohe Alter wichtig“, sagt Forstmeier. „Sonst ist die Gefahr groß, depressive Tendenzen zu entwickeln, die die Lebensqual­ität stark beeinträch­tigen können.“

Auch Gerhard Sprakties wünscht sich, dass Menschen im höheren Alter mit Neugier in die Zukunft schauen. „Ich kenne eine alte Dame, die wohnte im Heim, hat eigentlich nichts mehr erwartet und spielte dann durch einen Zufall eine tragende Nebenrolle in einem Kinofilm.“Und was sagte die Dame danach? „Das Beste in meinem Leben kam zum Schluss.“

Simon Forstmeier, Professor für Klinische Psychologi­e an der Universitä­t Siegen

„Solange es die körperlich­e Fitness zulässt, muss man keinen Gang zurückscha­lten.“

Literaturt­ipps

Greta Silver: Alt genug, um mich jung zu fühlen, Rowohlt Taschenbuc­h 2019, 224 Seiten, 16 Euro. Gerhard Sprakties: Happy-Aging statt Anti-Aging – Glücklich und sinnerfüll­t alt werden, Springer 2019, 179 Seiten, 17,99 Euro.

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FOTO: LOTTA FOTOGRAFIE Multitalen­t mit 71 Jahren: Greta Silver ist Model, YouTube-Star und Autorin.

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