„Der Abschwung trifft zuerst unsere Klienten“
Caritas-Chef Harald Thomas über Wirtschaftsboom, fehlende Unterstützung der Schulen und steigende Mieten als Armutsproblem
- Viele Menschen in Lindau haben gerade zum Jahreswechsel im Luxus geschwelgt und viel Geld ausgegeben. Anderen fiel in diesen Tagen umso mehr auf, dass sie da wirtschaftlich nicht mithalten können. Peter Mittermeier hat mit CaritasGeschäftsführer Harald Thomas über Armut im Landkreis Lindau gesprochen.
Weihnachten war auch wieder die Zeit der Wünsche. Welchen hatten Sie an die Kommunalpolitik, welchen an die große Politik?
Im Unterschied zur großen Politik möchte ich der Kommunalpolitik ein gutes Zeugnis ausstellen. Das liegt sicher vor allem daran, dass Politiker vor Ort in der Gemeinschaft leben und meist noch konkret die Sorgen und Nöte der Menschen in ihrem Umfeld wahrnehmen. Die große Politik hat sich komplett von den Menschen verabschiedet, für die sie eigentlich da sein sollte. In der Weltpolitik erkenne ich nur noch ein Hauen und Stechen. Es geht ausschließlich um die möglichst sofortige Befriedigung vermeintlicher nationaler Bedürfnisse. Für mich zeichnet sich klar ab, dass der Wegfall einer Völker- und Wertegemeinschaft zu einem irreversiblen Niedergang unserer Kultur führen wird. Und der Egoismus, den die Oberhäupter viel zu vieler Staaten vorleben, führt leider auch zur Nachahmung im Kleinen.
Hatten Sie für die Menschen in den Tafelläden ein besonderes Angebot an den Festtagen?
Teils, teils. Wir haben in Zusammenarbeit mit Schulen, Firm- und Konfirmandengruppen vor den Discountern um Lebensmittelspenden geworben. In Lindau sind dabei über 4600 Artikel zusammengekommen – ein Rekordergebnis. Die Aktion „Kauf eins mehr“hilft unseren Tafelkunden sehr, an den Festtagen auch in den Genuss eines Festessens zu kommen. Dagegen mussten wir sie in Lindenberg leider zum zweiten Mal ausfallen lassen.
Woran lag das?
Im Westallgäu hat sich keine einzige Schule mehr engagiert. Im Vorjahr haben wir mit der Fachakademie für Sozialpädagogik aus Lindau wenigstens eine Notaktion in drei Märkten durchgeführt. Und an Ostern haben uns Firmgruppen aus dem Westallgäu geholfen. Das ist wirklich ein beschämendes Armutszeugnis für die Schulen vor Ort. Und das liegt ganz sicher nicht an der Bereitschaft und dem Willen von jungen Menschen, sich zu engagieren. Das zeigt das Beispiel Lindau.
Wie viele Menschen versorgen sich denn über die beiden Tafelläden?
In Lindau erreichen wir mit der Hilfe circa 300, in Lindenberg etwa 220 Menschen pro Woche.
Steigt die Zahl der Menschen, die kommen?
Glücklicherweise hatten wir in der Tafel in diesem Jahr eher einen leichten Rückgang zu verzeichnen. Wir hoffen, dass sich das fortsetzt. Allerdings ist uns bei der Caritas klar, dass der befürchtete wirtschaftliche Abschwung zuerst wieder unsere Klienten treffen wird.
Wer durch die Konsumtempel in den Städten wandert, der könnte auf die Idee kommen, es gäbe keine Armut in Deutschland. Wie ist die Lage im Landkreis?
Konsumtempel ist ein interessantes Wort. Es beinhaltet, dass Konsum für viele Menschen ein Ersatz für Religion geworden ist, aber auch für höhere Werte wie den der Nächstenliebe oder des Gemeinsinns. Wenn man ehrlich zu sich selbst ist, wird einem schnell bewusst, dass man im Konsum immer alleine ist und dass die damit erzielte Befriedigung eines Bedürfnisses von sehr kurzer Dauer ist und meist nur einen schalen Geschmack hinterlässt. Aber zur Frage: Armut gibt es natürlich auch bei uns im Landkreis.
Die Wirtschaft boomt seit einem Jahrzehnt. Merken Sie davon etwas?
In der Regel kommt ein Wirtschaftsboom nur mit mehrjähriger Verzögerung bei den unteren Gesellschaftsschichten an. Wir registrieren in unserer Sozialberatung und in unseren beiden Tafeln, dass weniger jüngere Menschen um Hilfen nachfragen oder zur Tafel kommen, also offensichtlich nach und nach Arbeit gefunden haben. Auf der anderen Seite stellen wir fest, dass die Altersarmut signifikant ansteigt. Unsere Erfahrung zeigt, dass wir bei der Caritas immer dann viel Arbeit haben, wenn die Menschen wenig Arbeit haben.
Kinder, heißt es oft, seien ein Armutsrisiko. Können Sie das für den Landkreis bestätigen?
Absolut. In einer kinderreichen oder in einer alleinerziehenden Familie aufzuwachsen, bedeutet ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko. Damit einhergehend sind Bildungsarmut und erschwerte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben bis hin zur Ausgrenzung.
Caritas bedeutet übersetzt ja auch Mildtätigkeit. Erfahren Sie als Organisation und die Menschen, die Sie betreuen, vor Weihnachten besondere Aufmerksamkeit?
Ja, auf jeden Fall. Das hat sicher mit der eigentlichen Bedeutung von Weihnachten zu tun. Auch mit der Wahrnehmung, dass es einem selbst gut geht und der Ahnung, dass es auch in unserem reichen Land viele Menschen gibt, denen es eben nicht gut geht. Aber erlauben Sie mir die Anmerkung, dass es solche Notlagen im ganzen Jahr gibt. Man kann hier mit einem regelmäßigen monatlichen Betrag das ganze Jahr über sehr effektiv helfen, Not zu lindern. Beispielsweise machen das unsere Tafelpaten und -patinnen. Natürlich helfen uns auch Einzelspenden und die vielen privaten Warenspenden unter dem Jahr.
Die Mieten steigen stetig. Das trifft vor allem Menschen, die über geringere Einkommen und kaum ein Vermögen verfügen. Wie groß ist das Problem?
Wohnen ist heute schon ein Luxus, an dem immer weniger Menschen teilhaben können. Wenn Miete und Nebenkosten 60 Prozent vom Nettoeinkommen eines Berufstätigen auffressen, ist das für viele ein sicherer Weg in die Armut. Bezahlbarer Wohnraum muss ein Grundrecht werden.
Die Caritas hat ihr 30-jähriges Bestehen gefeiert. Wird die Caritas in 30 Jahren noch nötig sein? Wie wird sich die Gesellschaft entwickeln?
Generell stimme ich da dem Kabarettisten Hagen Rether zu, der sagt: „Sozial Schwache sind nicht sozial, sondern ökonomisch schwach. Meiner Erfahrung nach sind viel eher die ökonomisch Starken sozial schwach.“Wenn sich, wie ich leider befürchte, unsere Gesellschaft nicht darauf besinnt, wieder mehr an den Nächsten zu denken, wird die Caritas auch in 30 Jahren unverzichtbar sein. Zum einen als Organisation, die Menschen in Not hilft, und zum anderen als Anwalt dieser Menschen, der immer wieder den Finger in diese zunehmend klaffende Wunde der Gesellschaft legt. Hoffnung macht mir, wenn ich sehe, mit wie viel Freude und Herzblut sich unsere beinahe 200 Ehrenamtlichen engagieren. Das sind die Menschen, die das Licht in die Welt tragen und die dazu noch sagen, dass sie in ihrem Ehrenamt mehr zurückbekommen als sie geben.