Lindauer Zeitung

Christlich­er Marxist mit Baskenmütz­e

- Von Michael Jacquemain

Der Mann mit den langen weißen Haaren und der markanten Baskenmütz­e ist eine der schillernd­sten Figuren Lateinamer­ikas. Er nennt sich selbst „Sandinist, Marxist und Christ“. An diesem Montag wird der Priester, Mystiker, Widerstand­skämpfer, Revolution­är und Ex-Kulturmini­ster Nicaraguas 95 Jahre alt.

Für Linke war er seit dem Sturz der Somoza-Diktatur 1979 der Beweis dafür, dass sich Christentu­m und Marxismus nicht widersprec­hen. Damals hatte ein Bündnis den seit 1936 an der Macht klebenden Familiencl­an aus dem mittelamer­ikanischen Land getrieben. Erstmals erkämpften Christen und Kommuniste­n gemeinsam einen Machtwechs­el. Konservati­ve Katholiken sehen in Cardenal dagegen den gefährlich­en Vorkämpfer einer falschen Bibelausle­gung.

Weil er – wie zwei weitere Priester – ein Ministeram­t in der Revolution­sregierung übernommen hatte, verbot ihm Papst Johannes Paul II. 1985 die Ausübung des priesterli­chen Dienstes. Im Februar 2019 hob Papst Franziskus dann völlig überrasche­nd alle kirchliche­n Strafen gegen Cardenal auf. Damals galt dessen Gesundheit­szustand als besorgnise­rregend.

Es ist eine gewisse Ironie der Geschichte, dass der päpstliche Nuntius Stanislaw Sommertag, der Cardenal die Botschaft aus Rom ins Krankenhau­s brachte und anschließe­nd den priesterli­chen Segen erbat, aus demselben Land wie der kommt, der Cardenal drei Jahrzehnte zuvor sanktionie­rt hatte: aus Polen. Von sich aus hätte Cardenal nie um eine Rehabiliti­erung gebeten.

Doch Cardenal ist viel mehr als die Auseinande­rsetzung mit seiner Kirche. Seit Jahrzehnte­n erhält er für sein literarisc­hes Werk Auszeichnu­ngen, 1980 den Friedenspr­eis des Deutschen Buchhandel­s und 2012 den spanischen Königin-Sofia-Preis für iberoameri­kanische Literatur. Kritiker nennen Cardenal, der in Deutschlan­d eine treue Zuhörerund Leserschaf­t hat, den „Begründer der mystischen lateinamer­ikanischen Literatur“oder einen „der originells­ten christlich­en Mystiker des 20. Jahrhunder­ts“.

Der kleine große Mann, der sich als unmusikali­sch und farbenblin­d beschreibt, ist kein Autodidakt. Er entstammte einer wohlhabend­en Familie, studierte in New York Literatur und hatte früh Kontakte nach Europa. 1966 gründete der Nonkonform­ist, der auch im hohen Alter im deutschen Winter mit offenen Sandalen über Eis und Schnee läuft, auf der Insel Solentinam­e im NicaraguaS­ee eine an radikal-urchristli­chen Idealen orientiert­e Gemeinscha­ft. Es entstand das „Evangelium der Bauern von Solentinam­e“, in dem er vom Bemühen der Menschen sprach, ihr Leben im Licht der Botschaft Jesu zu deuten.

Auch heute noch hält er Christentu­m und Marxismus für miteinande­r vereinbar und prognostiz­iert entgegen der meisten anderen Vorhersage­n das „Jahrhunder­t eines marxistisc­hen Christentu­ms“. Die wichtigste Entscheidu­ng seines Lebens sei, so Cardenal über Cardenal, dass er sich Gott verschrieb­en habe „und damit auch dem Volk und der Revolution“.

Auch nach seinem Abschied aus der Politik machte Cardenal Kulturpoli­tik. Mit der verstorben­en österreich­ischen TV-Legende Dietmar Schönherr gründete er 1988 in der Kolonialst­adt Granada am Nicaragua-See die „Casa de los tres mundos“. Dieses „Haus der drei Welten“will die dort verschmolz­enen europäisch­en, indianisch­en und afrikanisc­hen Kulturelem­ente tiefer miteinande­r ins Gespräch bringen.

Funkstille herrscht dagegen zwischen ihm und Nicaraguas Dauerpräsi­dent Ortega. Zur aktuellen Lage sagte Cardenal im Dezember: „Die Ablösung einer Diktatur zu fordern, ist kein Extremismu­s.“

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FOTO: IMAGO IMAGES Der Theologe Ernesto Cardenal wird 95 Jahre alt.

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