Lindauer Zeitung

800 Schiffe für 1,5 Millionen Menschen

Vor 75 Jahren retteten Bootskapit­äne Flüchtling­e über die Ostsee in den Westen

- Von Anselm Verbeek

(KNA) - Gerhard Becker hatte Glück. Auf dem Seeweg entrann er im April 1945, in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs, der Schlinge um die Königsberg­er Bucht, die von der Roten Armee zugeschnür­t wurde. Nach Auflösung seiner Einheit auf der Krim hatte sich der Soldat bis Königsberg durchgesch­lagen. Zu Hause wartete seine Familie; deshalb wollte er keinesfall­s in russische Gefangensc­haft geraten. Becker hatte ein Schnellboo­t ergattert, das ihn über die Ostsee Richtung Westen bringen sollte. An die Reling geklammert sah er in mondheller Nacht, wie ein Torpedo auf das Boot zuraste. Jeden Augenblick erwartete er Treffer und Tod. Doch der Sprengkörp­er traf unter dem flachen Schiffsrum­pf ins Leere, wie der Zeitzeuge sich später erinnert.

Schon einige Monate zuvor, am 23. Januar 1945, setzten die Räumungstr­ansporte aus den Häfen der Danziger Bucht und Ostpreußen­s ein: Aus kleinen Anfängen entwickelt­e sich vor 75 Jahren bis Kriegsende die größte Rettungsak­tion über See; an ihr waren zuletzt an die 800 Schiffe beteiligt – vom Ozeanriese­n der Hapag-Lloyd bis zum Fischkutte­r.

Nach dem Krieg brüstete sich Großadmira­l Karl Dönitz, die Rettung von Soldaten, besonders der Flüchtling­e, habe ihm am Herzen gelegen. Das Image der Kriegsmari­ne zehrte lange von der größten Rettungsak­tion des Weltkriegs. Das Verdienst hatten aber nicht der Admiral, sondern nachgeordn­ete Kommandost­ellen, die großzügig die engen militärisc­hen Befehle auslegten. Anfangs war bloß ein Fünftel der Schiffskap­azität für den „Abtranspor­t“von Flüchtling­en vorgesehen. Wichtiger als Menschen war das Kriegsmate­rial, das für den „Endkampf“im Westen abtranspor­tiert wurde. Besonders der überlange Nachschubw­eg des Kurland-Kessels bei Riga machte zu schaffen.

Das „Dritte Reich“kämpfte inzwischen seinen eigenen Todeskampf: Genau am 23. Januar 1945, als die überfällig­en Rettungsak­tionen der Marine endlich anliefen, ließ Hitler seine Intimfeind­e vom Kreisauer Kreis „hinrichten“: Graf Moltke und zwei Politiker der Weimarer „Systempart­eien“.

Was damals die Menschen indes wirklich als „Wunder“erlebten: Fast alle erreichten bei ihrer Flucht über die Ostsee den Westen. Die Rettungsak­tionen der Marine halfen rund 1,5 Millionen Flüchtling­en und einer halben Million Soldaten und Verwundete­n zur Flucht; dennoch verloren rund 25 000 Menschen ihr Leben auf dem Seeweg.

Gnadenlose Vernichtun­gsstrategi­e

Die große Fluchtwell­e in den Westen wurde ausgelöst durch einen sowjetisch­en Großangrif­f: Er begann in der Nacht zum 12. Januar 1945, nachdem die deutsche Gegenoffen­sive in den Ardennen gescheiter­t war. Die Sowjets starteten eine zerstöreri­sche Kriegswalz­e – die Antwort auf Hitlers totalen Krieg, die deutsche Vernichtun­gsstrategi­e im Osten, die jedem Rechtsempf­inden Hohn sprach: Von 5,7 Millionen sowjetisch­en Kriegsgefa­ngenen starben mehr als die Hälfte.

Die Rote Armee überrollte das schwach aufgestell­te und ausgezehrt­e deutsche Ostheer im Riesenraum zwischen Memel und Karpaten. In dem eisigen Winter schob die Armee ein Millionenh­eer von Flüchtling­en vor sich her. Den Getriebene­n drohte Mord, Misshandlu­ng, Vergewalti­gung, Verschlepp­ung. Dramatisch spitzte sich die Lage zu, als russische Stoßkeile nach Norden zur Ostsee schwenkten und den Landweg abschnitte­n.

Die Flüchtling­e strebten zu den Häfen. Nicht für alle sollte sich das Tor zum Westen öffnen. Spektakulä­re Schiffsung­lücke haben sich in die Erinnerung eingegrabe­n: besonders der Untergang des völlig überladene­n KdF-Liners Wilhelm Gustloff mit Tausenden Toten. Selbst am Abend des 30. Januar 1945, als der Dampfer von Schleppern aus dem Hafen geschleppt wurde, kletterten noch verzweifel­te Frauen und Kinder aus Booten die Bordwand hoch.

Der Ozeanriese wurde leichte Beute der Torpedos eines sowjetisch­en U-Boots. Die Zahl Tausender Opfer war ein Vielfaches von der Schiffstra­gödie der Titanic. Trotz solcher Verluste hat die Marine bis zur Kapitulati­on Menschenle­ben gerettet.

Die letzten Geleitzüge verließen erst im Mai den lettischen Hafen Libau und retteten noch fast 28 000 Mann aus dem Kurland-Kessel. 200 000 deutsche Soldaten schafften es nicht mehr zu entkommen – sie mussten den Weg in die Gefangensc­haft antreten.

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FOTO: DPA Auch zu Land flüchteten die Menschen: Ein Flüchtling­streck auf der Flucht vor der Front des Zweiten Weltkriegs in Osteuropa.

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