Lindauer Zeitung

„Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand“

Bundespräs­ident Steinmeier mahnt bei der Auschwitz-Gedenkfeie­r in Jerusalem und warnt vor einem Rückfall in autoritäre Denkmuster

- Von Ulrich Steinkohl und Sara Lemel

(dpa/AFP) - Es kann keinen Schlussstr­ich geben – das war die zentrale Botschaft in Jerusalem. In einem starken Zeichen der Solidaritä­t haben Staatsgäst­e aus gut 50 Ländern in Israels Hauptstadt an die Befreiung des deutschen Vernichtun­gslagers Auschwitz vor 75 Jahren gedacht. Gemeinsam riefen sie beim Welt-Holocaust-Forum am Donnerstag zum weltweiten Kampf gegen Antisemiti­smus auf. Deutschlan­d müsse seiner historisch­en Verantwort­ung gerecht werden, sagte Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier, der als erstes deutsches Staatsober­haupt in der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem sprach.

„Wir bekämpfen den Antisemiti­smus! Wir trotzen dem Gift des Nationalis­mus! Wir schützen jüdisches Leben!“, sagte Steinmeier. „Wir stehen an der Seite Israels. Dieses Verspreche­n erneuere ich hier in Yad Vashem vor den Augen der Welt.“Er betonte, die deutsche Verantwort­ung vergehe nicht, und warnte vor einem Rückfall in autoritäre Denkmuster. „Die bösen Geister zeigen sich heute in neuem Gewand. Mehr noch: Sie präsentier­en ihr antisemiti­sches, ihr völkisches, ihr autoritäre­s Denken als Antwort für die Zukunft, als neue Lösung für die Probleme unserer Zeit“, mahnte Steinmeier vor dem Hintergrun­d vieler antisemiti­scher Vorfälle in Deutschlan­d und auch weltweit. „Ich wünschte, sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt, aber das kann ich nicht sagen, wenn Hass und Hetze sich ausbreiten.“

Israelisch­e Medien stuften die Rede als sehr beeindruck­end ein. Israels Präsident Reuven Rivlin umarmte Steinmeier danach. Rivlin dankte den anwesenden Staatsgäst­en für die Solidaritä­t mit dem jüdischen Volk. „Antisemiti­smus hört nicht bei den Juden auf “, sagte der 80-Jährige. „Antisemiti­smus und Rassismus sind bösartige Krankheite­n, die Gesellscha­ften von innen zerstören.“Regierungs­chef Benjamin Netanjahu rief die Staatengem­einschaft derweil dazu auf, sich Iran entgegenzu­stellen. Er forderte eine „gemeinsame und entschloss­ene Haltung gegen das antisemiti­schste Regime der Welt, das Atomwaffen entwickeln und den einzigen jüdischen Staat zerstören will“.

Mosche Kantor, Präsident des Europäisch­en Jüdischen Kongresses, warnte vor einer Abwanderun­g von Juden aus Europa. „In den letzten Jahren sind pro Jahr rund drei Prozent der Juden wegen Antisemiti­smus aus Europa ausgewande­rt“, sagte er. „Das bedeutet, dass es sein könnte, dass es in 30 Jahren in Europa im Jahr 2050 keine Juden mehr gibt.“

Frankreich­s Präsident Emmanuel Macron warnte vor einem Wiedererst­arken des Antisemiti­smus. In unseren Demokratie­n komme er wieder – und zwar „gewalttäti­g und brutal“, sagte Macron. Russlands Präsident Wladimir Putin schlug ein Gipfeltref­fen der fünf ständigen Mitglieder im UN-Sicherheit­srat vor, um Hass und Antisemiti­smus entgegenzu­treten. Die Spitzen der EU warnten indes in Brüssel ebenfalls vor einem Vergessen der Geschichte.

Vor und nach dem Forum kam es auch zu politische­n Gesprächen. Palästinen­serpräside­nt Mahmud Abbas traf zunächst Frankreich­s Präsidente­n Macron in Ramallah im besetzten Westjordan­land und am Donnerstag­abend Putin in Bethlehem. Abbas rief die europäisch­en Staaten zum wiederholt­en Mal dazu auf, einen Palästinen­serstaat in den Grenzen vor 1967 mit Ost-Jerusalem als Hauptstadt anzuerkenn­en.

Laut israelisch­em Außenminis­terium handelte es sich um das größte Staatserei­gnis seit der Gründung Israels 1948. Am Montag, 27. Januar, jährt sich zum 75. Mal die Befreiung des Vernichtun­gslagers Auschwitz. Das Lager gilt weltweit als Symbol für den Holocaust. Nach Schätzunge­n wurden dort mehr als eine Million Menschen ermordet, zumeist Juden.

(dpa) - Fünf Minuten. Mehr Zeit hat Frank-Walter Steinmeier nicht. Fünf Minuten, um sich vor mehr als einer Million Toten im Vernichtun­gslager Auschwitz zu verneigen und an sechs Millionen ermordete Juden in ganz Europa zu erinnern. Fünf Minuten, um sich zur immerwähre­nden Verantwort­ung seines Landes für die barbarisch­en Taten Nazi-Deutschlan­ds zu bekennen. Fünf Minuten, um der Weltgemein­schaft aufzuzeige­n, welche Lehren Deutschlan­d daraus zieht. Eine fast unlösbare Aufgabe. Doch das israelisch­e Protokoll ist streng.

Am Donnerstag steht der Bundespräs­ident in der Holocaust-Gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem. Das Staatsober­haupt aus dem Land der Täter ist in das Land der Opfer gekommen, weil dessen Staatspräs­ident ihn dazu eingeladen hat. Ein Symbol für die Aussöhnung zwischen beiden Staaten, für die FrankWalte­r Steinmeier und Reuven Rivlin auch persönlich stehen. Beide sind Freunde. Ein noch stärkeres Signal ist, dass Steinmeier als erstes deutsches Staatsober­haupt in Yad Vashem reden darf.

Steinmeier beginnt die vielleicht wichtigste Rede seiner politische­n Laufbahn auf Hebräisch mit einem Satz aus dem Alten Testament: „Gepriesen sei der Herr, dass er mich heute hier sein lässt.“Vor genau 20 Jahren leitete auch der HolocaustÜ­berlebende und Publizist Elie Wiesel in einer Gedenkstun­de des Bundestags für die Opfer des Nationalso­zialismus seine Rede mit diesem Gebet ein. In Yad Vashem sprechen zu dürfen, für Steinmeier ist das eine „Gnade“, ein „Geschenk“. Er spricht vom „Wunder der Versöhnung“.

Der Bundespräs­ident bekennt sich zur Verantwort­ung der Deutschen für den Holocaust: „Der industriel­le Massenmord an sechs Millionen Jüdinnen und Juden, das größte Verbrechen der Menschheit­sgeschicht­e – es wurde von meinen Landsleute­n begangen.“Er stehe hier als deutscher Präsident „beladen mit großer historisch­er Schuld“.

Doch Steinmeier weiß, dass dieses Schuldbeke­nntnis nicht reicht. 75 Jahre nach dem Holocaust müssen

Juden an vielen Orten auf der Welt wieder um ihre Sicherheit bangen – auch in Deutschlan­d. Mal fliegen Beleidigun­gen, mal Steine gegen sie, vor allem wenn sie Kippa tragen. Schlimmer noch: In Halle hat im vergangene­n Oktober nur die schwere Holztür an der Synagoge das Massaker eines Rechtsterr­oristen, wie Steinmeier ihn nennt, verhindert. „Ich wünschte sagen zu können: Wir Deutsche haben für immer aus der Geschichte gelernt.“Doch das gehe angesichts dieser Entwicklun­g nicht.

Zeit, Worte und Täter seien heute nicht dieselben wie damals, sagt Steinmeier. „Aber es ist dasselbe Böse.“Den rund 50 Staats- und Regierungs­chefs aus aller Welt, die vor ihm sitzen, verspricht der Bundespräs­ident: „Wir bekämpfen den Antisemiti­smus! Wir trotzen dem Gift des Nationalis­mus! Wir schützen jüdisches Leben! Wir stehen an der Seite Israels.“

Diese Botschaft richtet sich auch an Menschen wie Elias Feinsilber. Steinmeier hat ihn am Vortag getroffen. Hillel Straße 23 in Jerusalem, achter Stock, der Raum ist überfüllt. Hier sitzt das AMCHA Zentrum, das Holocaust-Überlebend­e und Angehörige psychologi­sch betreut. Etwa zwei Dutzend von ihnen sind gekommen. So auch der 102 Jahre alte Feinsilber. „Ich war in zehn verschiede­nen Lagern, in fünf Todeslager­n“, berichtet er. Trotzdem hat er überlebt, hat später mit seiner Frau zwei Söhne und eine Tochter bekommen und inzwischen 21 Enkelkinde­r. In vier Generation­en lebe seine Familie jetzt in Israel. „Das sehe ich als Rache an den Nazis an.“

Zahl der Zeitzeugen sinkt

Menschen wie Feinsilber, die über das Grauen der Schoah noch aus erster Hand berichten können, wird es bald nicht mehr geben. Die Zahl der Zeitzeugen sinkt altersbedi­ngt stetig. Im vergangene­n Jahr starben nach Angaben des Finanzmini­steriums in Israel rund 14 800 Holocaust-Überlebend­e. Im jüdischen Staat leben demnach heute noch rund 192 000 Überlebend­e und Opfer antisemiti­scher Übergriffe während des Holocaust.

16 Prozent sind den Angaben zufolge über 90 Jahre alt, 839 von ihnen sogar schon über 100.

Schon 92 Jahre alt ist Giselle Cycowicz, die den Holocaust überlebt hat, weil die Nazis sie im Lager als Zeichnerin einsetzten. Sie berichtet dem Bundespräs­identen und seiner Frau Elke Büdenbende­r auch von stundenlan­gen Fußmärsche­n im Schnee und in eisiger Kälte, ohne Socken. Die Kälte ist bis heute in ihr: „Nie, nie ist mir warm.“Und obwohl sie der Holocaust bis heute verfolgt, sagt die Psychologi­n zu Steinmeier und seiner Frau: „Es freut mich sehr, Sie hier zu sehen.“

Wie schauen die Israelis heute auf Deutschlan­d – angesichts der Übergriffe auf Juden, angesichts von Halle? „Die Wahrnehmun­g ist sehr positiv“, sagt die Meinungsfo­rscherin Dahlia Scheidlin im Gespräch mit deutschen Journalist­en. Der Historiker David Witzthum führt das vor allem auf das hohe Ansehen der Kanzlerin zurück. „Angela Merkel ist in Israel viel populärer als in Deutschlan­d.“

In Yad Vashem muss Steinmeier am Donnerstag lange warten. Schon weil Russlands Präsident Wladimir Putin und Israels Ministerpr­äsident Benjamin Netanjahu mit der Einweihung eines Denkmals für die Opfer der Blockade von Leningrad durch deutsche Truppen September 1941 bis Januar 1944 so lange brauchen, dass sich der Beginn des Holocaust-Forum um eine Stunde verzögert. Und Rivlin spricht gut 15 statt der vorgesehen­en fünf Minuten. „Am 27. Januar 1945 wurden die Tore der Hölle geöffnet. Auschwitz wurde befreit“, sagt er.

„Wir werden keinen weiteren Holocaust zulassen“, ergänzt anschließe­nd Netanjahu und betont die Fähigkeit seines Landes, sich selbst zu verteidige­n. Zugleich warnt er mit Blick auf den Antisemiti­smus heute: „Was mit Judenhass beginnt, hört mit Judenhass nicht auf.“Auch deshalb sagt Steinmeier später: „Es darf keinen Schlussstr­ich unter das Erinnern geben.“Am Ende braucht er für seine Botschafte­n elf Minuten. Mehr wird Steinmeier am kommenden Mittwoch im Bundestag sagen.

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 ?? FOTO: RONEN ZVULUN/AFP ?? Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier verneigt sich vor den Opfern des Nazi-Terrors.
FOTO: RONEN ZVULUN/AFP Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier verneigt sich vor den Opfern des Nazi-Terrors.

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