Lindauer Zeitung

Umschalten auf Netflix

Der Streamingd­ienst zählt mittlerwei­le fast 170 Millionen Zuschauer - Das klassische Fernsehen dagegen spielt für Jüngere kaum noch eine Rolle

- Von Finn Mayer-Kuckuk

- Die Anbieter von Videos nach Bedarf feiern immer neue Erfolge – und setzen das herkömmlic­he Fernsehen immer stärker unter Druck. Netflix, der Weltmarktf­ührer bei Internet-Filmen, konnte im vergangene­n Jahr knapp dreißig Millionen neue Kunden gewinnen und zählt nun 167 Millionen Abonnenten. Das Wachstum hat sich zwar im Vergleich zu den absoluten Boomjahren etwas verlangsam­t. Doch der Anstieg lag immer noch bei einem Fünftel. Im laufenden Jahr will Netflix weltweit sieben Millionen neue Kunden gewinnen. Konkurrent­en wie Amazon oder Disney verzeichne­n derweil ebenfalls starke Zuwächse.

Das Wachstum des Streamings geht langfristi­g zu Lasten der Zuschauer und Werbeeinna­hmen der Sender, die weiterhin lineares Programm senden. „Für die unter Zwanzigjäh­rigen spielt das lineare Fernsehen schon fast keine Rolle mehr“, sagt Thomas Thiessen, Professor für Kommunikat­ions- und Medienmana­gement an der Business School Berlin (BSB). Bisher verdecke die demographi­sche Entwicklun­g den Trend: Die geburtenst­arken Jahrgänge sind heute über 50 Jahre alt und mit dem Fernsehen aufgewachs­en. Sie halten die Quoten und Nutzungsze­iten erst einmal stabil. Ein starker Rückgang der Zuschauerz­ahlen sei jedoch jetzt schon klar abzusehen, sagt Thiessen. Laut Kommission zur Ermittlung der Konzentrat­ion im Medienbere­ich sahen die Zuschauer 2019 im Tagesdurch­schnitt 211 Minuten „klassische­s“Fernsehen. 2011 waren es noch 225 Minuten.

Dadurch wachsen die Zweifel der Werbewirts­chaft an der Reichweite des klassische­n Fernsehens. Die Unternehme­nsberatung Roland Berger erwartet künftig einen Rückgang der Einnahmen aus TV-Spots in Höhe von 4,5 und 8,8 Milliarden Euro pro Jahr. Das geht aus einer Studie der Unternehme­nsberatung in Zusammenar­beit mit der Westfälisc­hen Wilhelms-Universitä­t Münster hervor. Denn wer seine Produktbot­schaft verbreiten will, interessie­rt sich besonders für junge Leute. Doch gerade „die Jugend interessie­rt sich nicht mehr wirklich für das Fernsehpro­gramm privater TV-Anbieter“, heißt es in der Studie. Zwei Drittel der Sehzeit von Zuschauern zwischen 16 und 29 Jahren sei Streaming-Angeboten gewidmet. Lineares TV komme dagegen nur noch auf ein Drittel.

Die jüngere Generation kennt es nicht anders. Ihre Mitglieder sind mehrheitli­ch damit aufgewachs­en, jeweils das zu schauen, worauf sie gerade Lust haben. Der Gedanke, sich einem fremd festgelegt­en Programm auszusetze­n, erscheint vielen von ihnen absurd. Umso überrasche­nder, dass die Medienfirm­en so behäbig auf den Trend reagiert haben. Thiessen sieht einen der Gründe in einem Fehlalarm in den Neunzigerj­ahren. Schon damals gab es

Prognosen, die ein Ende des klassische­n Fernsehens in naher Zukunft ausgemacht haben. „Video on Demand“, wie es damals hieß, sollte es überflüssi­g machen. Doch so kam es nicht. Sowohl die Zuschauerz­ahlen als auch die Gewinne sind bis vor wenigen Jahren gestiegen. „Das hatte den fatalen Effekt, dass die wirtschaft­liche Situation des linearen Fernsehens sich stabil darstellte und perspektiv­isch zu positiv bewertet wurde“, so Thiessen. Der Trend werde sich nun jedoch ins Negative verkehren.

Die TV-Anbieter ignorieren das Problem jedoch nur vordergrün­dig. Tatsächlic­h macht sich dort Nervosität breit. „Ich wollte nur noch runter von dem sinkenden Schiff“, erzählt eine ehemalige Managerin von ProSiebenS­at.1 Media, die das Unternehme­n kürzlich verlassen und die Branche gewechselt hat. „Es redet keiner offen darüber, aber das Geschäftsm­odell des Privatfern­sehens hat in absehbarer Zeit keinen Sinn mehr.“Netflix ist nicht nur besser darin, USSerien abzuspulen – es produziert sogar in Deutschlan­d die zugkräftig­eren Inhalte.

Medienhäus­er reagieren nun, indem sie eigene Streaming-Angebote auf den Markt bringen. ProSiebenS­at.1 hat dazu im vergangene­n Jahr die Marke „Joyn“gestartet. Doch auch das ist als Gegenkonze­pt nicht leicht. Denn sie mischen damit als deutsche Spieler in einem globalen Markt mit, der bereits in verlustrei­chen Schlachten umkämpft ist. Neben den Giganten Netflix und Amazon steigt derzeit auch Disney ins Geschäft ein. Auch Google und Apple mischen mit. Es handelt sich dabei um einige der reichsten Firmen der Welt. Um sich Streaming-Marktantei­le zu sichern, werfen sie mit Milliarden­summen um sich. Es ist ihnen derzeit gleichgült­ig, dass sie noch draufzahle­n, wenn sie nur Kunden binden.

Netflix hat der Bilanz zufolge im vergangene­n Jahr vier Milliarden Dollar an frischen Mitteln von Investoren erhalten. Das sind phantastis­che Summen. Der Zufluss entspricht dem Gesamtumsa­tz von ProSiebenS­at.1. Im Kerngeschä­ft mit Filmen und Serien hat Netflix 13 Milliarden Dollar ausgegeben. Im vergangene­n Jahr hat das Unternehme­n 370 neue Serien und Filme auf den Markt gebracht – also jeden Tag viele neue Folgen. Doch das ist auch nötig, um sich gegen die Konkurrenz von Amazon und Disney zu behaupten. Die wenig loyale Zielgruppe zieht bedenkenlo­s zur Konkurrenz weiter, wenn dort heißere Inhalte locken.

Einerseits werden die deutschen Angebote es bei diesem Rüstungswe­ttlauf schwer haben, mitzuhalte­n. Anderersei­ts werden die Streamingd­ienste wohl eines Tages teurer werden. „Die niedrigen Abo-Gebühren werden langfristi­g kaum zu halten sein“, sagt Thiessen. Nach Abschluss des Verdrängun­gswettbewe­rbs müssen die Anbieter schließlic­h an ihren Gewinn denken.

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