Debatte um Pflichtbesuche für Schüler in KZ-Gedenkstätten
Vorschlag von Zentralratspräsident Schuster löst geteiltes Echo aus – Steinmeier bei Gedenkfeier in Auschwitz
- An diesem Montag erinnern Staats- und Regierungschefs sowie etwa 200 Überlebende in der polnischen Gedenkstätte an die Befreiung des deutschen Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren. Im Vorfeld der Feier, an der auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier teilnimmt, mehren sich Forderungen nach einem verpflichtenden Besuch von KZ-Gedenkstätten für
Schüler. „Das Entscheidende ist die Erinnerungsarbeit in der Schule und der Besuch von authentischen Orten, also den Gedenkstätten“, sagte Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, dem „Tagesspiegel“. Obligatorische Gedenkstättenbesuche sollten deshalb Teil der Lehrpläne werden.
Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) und der Antisemitismus-Beauftragte des Bundes, Felix Klein, schlossen sich der Forderung an. Der Grünen-Sprecher für Kulturpolitik, Erhard Grundl, begrüßte sie ebenfalls: „Erinnerungskultur kann an authentischen Orten unmittelbarer wirken als irgendwo sonst“, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“. Das Wissen um die Verbrechen der Nationalsozialisten werde wichtiger, wenn es keine Zeitzeugen mehr gebe. Kulturstaatsministerin Monika Grütters (CDU) betonte hingegen, der Besuch solle freiwillig bleiben. Ähnlich sieht man es bei der SPD.
Eine Mehrheit der Deutschen wäre laut einer repräsentativen Umfrage des Instituts YouGov für KZPflichtbesuche für Schüler: 56 Prozent sprachen sich dafür aus, 34 Prozent dagegen. Zwar finden 24 Prozent der Deutschen, das Gedenken an den Holocaust müsse generell verstärkt werden. Mehr als jeder Fünfte (22 Prozent) stimmte indes der Aussage zu, das Holocaust-Gedenken nehme zu viel Raum ein.
Nachts im Schlaf, wenn die Dämonen aus der Zeit des Krieges sie einholten, begann Martha Guttenberger zu klopfen. Dann schlug sie wie in Trance immer wieder und wieder mit dem Handrücken unter die Tischplatte neben ihrem Bett. Tok, tok, tok ... bis ihre Schwiegertochter Magdalena Guttenberger von den Geräuschen wach wurde und zu ihr kam. „Was machst du da, Martha, lass doch das Klopfen.“Und jedes Mal antwortete die alte Frau: „Aber die Kinder, sie sollen aufhören zu singen.“Nach einer Weile fand sie in den Schlaf, bis irgendwann der Handrücken wieder gegen den Tisch schlug. Tok, tok, tok ...
Als am 27. Januar 1945 die Rote Armee Auschwitz befreite, war Martha Guttenberger nichts mehr geblieben, außer den Erinnerungen an die Stimmen der weinenden und sterbenden Kinder im Lager, an Gewalt und an Gräuel. Auf dem Unterarm hatten die Nazis ihr eintätowiert: „Z“für Zigeuner und die Nummer „5656“, „mein Stempel“, wie die Sintiza später sagte. Immerhin, sie war am Leben, ihr Bruder, der in Block 20 des Lagers saß, wurde kurz vor der Befreiung vergast, andere Angehörige waren schon vorher ermordet worden. Der Familie und der Heimat in Mosbach bei Heilbronn beraubt, schloss sie sich in Auschwitz einer Handvoll Sinti an, die in ihre Siedlung im Ravensburger Stadtteil Ummenwinkel zurückkehrten. Wo schließlich auch Martha Guttenberger blieb. Und nachts von der Vergangenheit träumte. „Aus Angst hat sie manchmal geschrien“, erzählt ihre Schwiegertochter Magdalena Guttenberger. Und mit dem Alter wurden die Nächte immer länger.
Im Ummenwinkel nahe der Schussen leben Sinti bis heute in eingeschossigen Häuschen mit hübsch bepflanzten Vorgärten, abseits und mit Abstand zur nächsten Wohnbebauung. Auch Magdalena Guttenberger, die den Kirschbaum vor ihrem Haus so liebt, hat in dieser Randlage ihre Söhne großgezogen. „Vielen Familien von hier fällt es schwer, sich zu öffnen“, sagt die 64-Jährige, die sich im Landesvorstand der Sinti und Roma engagiert. „Sie haben den Weg noch nicht gefunden.“Den Weg raus aus der traumatischen Vergangenheit, rein in die Gesellschaft, in die Teilhabe am öffentlichen Leben. Ein Weg, der bis heute wie verbaut wirkt und der einst so brutal abgeschnitten wurde.
„Auschwitz hat seinen Ausgang schon 1933 in den Heimatorten genommen, das gilt für Ravensburg genauso wie für andere Städte“, sagt die Historikerin Karola Fings („Sinti und Roma – Geschichte einer Minderheit“), stellvertretende Direktorin des NS-Dokumentationszentrums in Köln. Damals gab es vom Bürgermeister über die Stadtverwaltung bis zur Polizei brachiale Kräfte, die die Rassenhetze vorantrieben, die Sinti und Roma genauso wie Juden als „Untermenschen“verfolgten, die ihnen Wohnung und Beruf nahmen, die ihnen den Besuch von Lokalen, Kinos und Spielplätzen verboten. Um „der Zigeunerplage Herr zu werden“, errichteten die Behörden 1935 im Ummenwinkel ein Zwangslager aus Holzbaracken, von Hundeführern bewacht und umgeben von einem Stacheldrahtzaun. NS-Schergen erschossen Hühner und Hunde wegen eines Haustierverbots, neben Arbeitszwang und nächtlicher Ausgangssperre wurden Sterilisationsverfügungen erlassen. Längst waren sie ausgebeutet und ausgegrenzt, als im Frühjahr 1943 die Gestapo 35 der rund 100 Sinti auswählte, sie nach Stuttgart verfrachtete und dann in Viehwaggons Richtung Osten schickte. Für die meisten war es eine Reise in den Tod.
Die Verhältnisse in AuschwitzBirkenau, wo die Sinti und Roma in Abschnitt B II e, von der SS „Zigeunerlager“genannt, eingepfercht wurden, sind mit unmenschlich nur unzureichend beschrieben. Franz Rosenbach, damals 15 Jahre, berichtete später: „Die Nässe und Kälte waren kaum auszuhalten ... Es gab keine Schuhe, keine Strümpfe, bei Sturm und Regen mussten wir ununterbrochen Lehm schaufeln. Mit großen Stöcken wurden die abgemagerten Häftlinge bis zur völligen Erschöpfung angetrieben, jeden Abend mussten wir Tote heimtragen.“
Oder Hildegard Franz aus Oberschwaben: „Innerhalb von zehn Wochen starben unsere vier Kinder. Meine kleinen Mädchen waren drei und zwei Jahre alt, die kleinste erst sieben Monate. Der kleine Junge meiner Schwester war auch erst zwei Jahre alt. Das kann sich niemand vorstellen, wie die Menschen dort gestorben sind.“Die Toten wurden zum Krematorium gebracht. „Wir sahen das Feuer Tag und Nacht brennen, wir lebten mit dem Geruch.“
Die SS „liquidierte“das „Zigeunerlager“vom 2. auf den 3. August 1944, die Mordnacht überlebten nur wenige Sinti und Roma, darunter Martha Guttenberger. Die ihrer Schwiegertochter erzählte, wie sie sich vor einem SS-Mann aufstellen musste, der mit dem Griff seiner Peitsche ihre Oberlippe hochschob, um das Gebiss zu prüfen. „Ich hatte Zähne wie Perlen“, sagte Martha, weshalb sie nicht in die Gaskammer kam, sondern als Kinderbetreuerin in eine Baracke – voll mit Mädchen und Jungen. Deren Eltern bereits tot waren. „Die Kinder bekamen immer wieder hohe Dosen Fluorid in den Joghurt und starben eines nach dem anderen“, erzählt Magdalena Guttenberger. In der Nacht musste ihre Schwiegermutter auf dem Boden neben den Leichen schlafen, die erst am Morgen rausgeholt und auf einen Laster gestapelt wurden. Es sind jene Bilder und die Stimmen der Kinder, die sie nicht loslassen konnte, auch nicht im Ummenwinkel.
Nach dem Krieg mussten die Sinti aus Ravensburg, die das Grauen überlebt hatten, weiter in den Gestapo-Baracken wohnen, in denen sie einst entwürdigt und entrechtet worden waren, mit nur einem Brunnen auf dem Gelände – bis ins Jahr 1984. Erst zu dieser Zeit, als die Stadt das Areal für eine Umgehungsstraße brauchte, konnte man die Verdrängten nicht mehr ignorieren. Engagierten Bürgern ist es zu verdanken, dass die Bewohner unweit der alten Baracken in neue Häuser ziehen konnten, erstmals mit fließend warmem Wasser. Fast 40 Jahre nach Kriegsende.
Warum hat es so lange gedauert, bis sich die Öffentlichkeit dieser Volksgruppe und der Ermordung von einer halben Million Sinti und Roma stellte?
„Als die Sinti und Roma aus den Konzentrationslagern in ihre Heimatorte zurückkamen, waren sie absolut unwillkommen“, sagt Historikerin Fings der „Schwäbischen Zeitung“. Denn diejenigen, die die Deportationen zu verantworten hatten, lebten ja noch. Und machten
– mit ihren im Schnellverfahren weißgewaschenen Biografien – Karriere. „Wenn sie zugegeben hätten, dass die Verfolgung der Sinti und Roma rassistisch motiviert war, hätten sie sich mit ihrer Täterschaft auseinandersetzen müssen – und wären vielleicht belangt worden“, erklärt Fings. „So aber wurde möglichst alles getan, damit Sinti und Roma am Rande der Gesellschaft bleiben.“Und ihnen weiter die Zugänge zu Bildung, Arbeit und Wohnen ebenso zu verstellen wie zu Anerkennung und Entschädigung. Was für den Südwesten genauso gilt wie für die gesamte Bundesrepublik.
So wies sogar der Bundesgerichtshof (BGH) noch 1956 in einem Skandalurteil die Ansprüche Überlebender ab und wertete die Deportation als „Umsiedlung“. In der Begründung hieß es: „Die Zigeuner neigen zur Kriminalität, besonders zu Diebstählen und zu Betrügereien. Es fehlen ihnen vielfach die sittlichen Antriebe zur Achtung vor fremdem Eigentum, weil ihnen wie primitiven Urmenschen ein ungehemmter Okkupationstrieb zu eigen ist.“
Dokumentiert von Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, ist auch dies: „Als Anna Eckstein 1951 in Karlsruhe einen Antrag auf Wiedergutmachung stellt, wird sie von der Kriminalpolizei vorgeladen und steht plötzlich vor Leo Karsten, dem ehemaligen SS-Mann und Leiter der Dienststelle für Zigeunerfragen im Berliner Polizeipräsidium.“Nach erkennungsdienstlicher Behandlung wird ihr Antrag mit der Bemerkung abgelehnt, dass sie im Mai 1940 lediglich „aus Sicherheitsgründen“nach Polen „evakuiert“worden sei.
„Nach ’45 hat es für uns nicht aufgehört“, sagt auch die Pädagogin Natalie Reinhardt, die in Ravensburg den Sinti Powerclub für Kinder und Jugendliche leitet. Eine ganze Bevölkerungsgruppe, so Reinhardt, sei durch die fehlende Aufarbeitung der NS-Zeit ein zweites Mal traumatisiert worden. Dieses Trauma werde auf furchtbare Weise noch heute von Generation zu Generation weitergegeben – und von außen befeuert: „Das Grundproblem ist der Antiziganismus“, sagt Reinhardt. „Wir werden noch immer als Fremde im eigenen Land wahrgenommen.“
Auch Historikerin Fings fordert ein längst überfälliges Umdenken. „Die Mehrheitsgesellschaft muss sich endlich mit ihren stereotypen Vorstellungen der Sinti und Roma auseinandersetzen. Das ist die Voraussetzung für gleichberechtigte Teilhabe.“In Ravensburg wurde mit einer historischen Erforschung der Geschehnisse um Ummenwinkel und seiner Bewohner ein Anfang gemacht. Als 1999 an der Jodokskirche ein Denkmal für die ermordeten Sinti eingeweiht wurde, wollte Martha Guttenberger zunächst aber nicht hingehen.
„Ich traue den Deutschen nicht“, sagte sie. „Ich habe nur Schlimmes erlebt. Sie werden mir was antun.“Schließlich ließ sich die alte Frau von der Familie doch überreden. Vorher aber überklebte sie am Unterarm ihre Tätowierung „Z – 5656“. Wenige Jahre später verstarb Martha Guttenberger im Alter von 86 an den Folgen eines nächtlichen Sturzes. Die Stimmen der Kinder verstummten.
„Die Mehrheitsgesellschaft muss sich endlich mit ihren stereotypen Vorstellungen der Sinti und Roma auseinandersetzen.“
Die Historikerin Karola Fings