Grundsatzstreit um den Mindestlohn
Eine neue Geschäftsordnung beflügelt die Debatte um eine Lohnuntergrenze von zwölf Euro
- Steigt der gesetzliche Mindestlohn im kommenden Jahr von 9,35 auf zwölf Euro? Die Gewerkschaften fordern es. Die SPD strebt es an. 2021 ist Bundestagswahl. Teile der Union wollen ebenfalls eine höhere Lohnuntergrenze. Dass die in Deutschland spürbar angehoben werden muss, meint auch die von der CDU-Politikerin Ursula von der Leyen geleitete EU-Kommission. Sie arbeitet an einer ersten EU-Richtlinie zum Mindestlohn. Den Arbeitgebern missfällt all dies ganz enorm.
In diesem Umfeld trifft sich am Dienstag erstmals die neue Mindestlohnkommission. Sie muss der Bundesregierung alle zwei Jahre vorschlagen, wie der Mindestlohn verändert werden soll. Der nächste Vorschlag ist bis 30. Juni fällig für die Anpassung zum Jahr 2021.
Der Kommission steht ein stürmischer Auftakt bevor: Verdi-Vize Andrea Kocsis und DGB-Vorstand Stefan Körzell, beide Mitglieder in dem Gremium, fordern eine neue Geschäftsordnung. Oder den Verzicht auf die bisherige. Das lehnen die Arbeitgeber bislang ab. Der Streit um die Geschäftsordnung ist kein Randthema. Er geht an den Nerv der Mindestlohndebatte und ist somit hochpolitisch. Denn die Geschäftsordnung schränkt, so Andrea Kocsis, den Entscheidungsspielraum der Kommission gewaltig ein. Das will sie nicht länger hinnehmen. Verdi ist im DGB nachhaltigster Verfechter eines Mindestlohns von zwölf Euro.
Die Kommission, so das Mindestlohngesetz, „prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung“, welche Mindestlohnhöhe erstens zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmer beiträgt, zweitens faire Wettbewerbsbedingungen ermöglicht und drittens Beschäftigung nicht gefährdet. Dabei „orientiert sie sich bei der Festsetzung nachlaufend an der Tarifentwicklung“.
Letzteres hat die Geschäftsordnung aber, so die berechtigte Kritik der Gewerkschaften, zum weitgehend alleinigen Maßstab gemacht. Denn: Will die Kommission auch die anderen Kriterien des Gesetzes berücksichtigen, muss dies eine Zweidrittelmehrheit in dem Gremium beschließen. Damit haben die Arbeitgeber faktisch ein Veto. Stimmberechtigt sind dort je drei Vertreter von Gewerkschaften und Wirtschaft. Die Stimme des neutralen Vorsitzenden zählt nur bei Pattsituationen.
Andrea Kocsis: „Für eine Anpassung allein nach Tarifentwicklung benötigen wir keine Mindestlohnkommission. Das kann auch das Statistische Bundesamt machen.“Die Gewerkschafterin ist überzeugt, ohne diese Geschäftsordnung wäre der Mindestlohn längst höher.
NRW-Sozialminister Karl-Josef Laumann sieht das genauso: „Für automatische Anpassungen an den Tarifindex
brauchen wir keine Kommission.“Der Chef der CDU-Sozialausschüsse: „Ich bin da echt sauer. Die Entwicklung des Mindestlohns ist eine Riesenenttäuschung.“85 Cent in fünf Jahren seien „beschämend“. Die Mindestlohnkommission habe „Arbeitsverweigerung betrieben, schlecht gearbeitet“.
Trotzdem überrascht es schon, dass der letzte CDU-Parteitag im November auf Betreiben Laumanns den Antrag beschlossen hat: „Der Mindestlohn muss besser werden.“In dem Text heißt es, die CDU fordere die Kommission auf, „sich eine neue Geschäftsordnung zu geben und von der geübten Praxis einer quasi-automatischen Erhöhung des Tarifindexes abzurücken“. Sie müsse die konkreten Spielräume analysieren und nutzen.
Diese Spielräume gibt es jedoch nach der Gesetzesinterpretation der Arbeitgeber nicht. Sie meinen, das Mindestlohngesetz schreibe die Orientierung an der Tarifentwicklung bindend vor. Genau das setze die Geschäftsordnung um. Und diese Regel sei „unverzichtbar“. Es ist zu erwarten, dass die Bundesvereinigung der Arbeitgeber mit dieser Sicht in den nächsten Wochen erhebliche juristische und noch mehr politische Probleme bekommen wird.
Die mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns vor fünf Jahren verbundene Hoffnung, damit das seit Jahren heftig umstrittene Thema befrieden zu können, erweist sich mittlerweile als Trugschluss. Der Mindestlohn wird in diesem Jahr ein zentraler Zankapfel in der Lohnpolitik.