Lindauer Zeitung

Chaos in uns und um uns

Christophe­r Rüping inszeniert „Im Dickicht der Städte“in München als Reigen der Einsamkeit

- Von Christiane Wechselber­ger

- Durchs Foyer rollen in Glitzeranz­üge (Kostüme: Lene Schwind) gekleidete Menschen in durchsicht­igen Kugeln. Derweil gibt Julia Riedler auf der Bühne der Münchner Kammerspie­le die Anheizerin und spielt mit uns: Ich sehe wen, den ihr nicht seht. Es folgen Mutmaßunge­n über Menschen aus dem Publikum, deren Gesichter auf eine Leinwand auf der Bühne projiziert werden. Geht der eine Mann ins Theater, um am Leben teilzunehm­en? Spielt der andere Klavier, um die Gesellscha­ft Chopins zu haben? Sitzt die Dame mit ihrem Kater auf der Couch und schaut „Kommissar Rex“, um sich nicht allein zu fühlen? Existiert Kampf als Form der Begegnung nur, damit wir einander näherkomme­n und unserer trostlosen Vereinzelu­ng entgehen? Und wurde das Theater erfunden, um der Einsamkeit zu entfliehen? Dann rollen die Kugelmensc­hen herein, entsteigen ihrem Kokon und sind allein, wie Zeus sie schuf, als er sie in zwei Teile schnitt. Seitdem sind sie auf der Suche nach ihrer fehlenden Hälfte.

Das Intro setzt den Ton für Christophe­r Rüpings Inszenieru­ng von „Im Dickicht der Städte“nach Bertolt Brecht: In dem 1923 uraufgefüh­rten Stück, das eher an absurdes Theater erinnert, provoziert Shlink völlig aus dem Nichts heraus George Garga. Die beiden tragen einen Kampf aus, für den es keinen Grund gibt, der Gargas gesamte Familie erfasst und mit Shlinks Tod endet. Und das alles nur, weil Shlink von der Sucht befallen ist, „Fühlung zu bekommen“, weil er Aggression einsetzt, um eine Beziehung aufzubauen, zu Garga, dessen Schwester Marie, zu Gargas Eltern.

Rüping inszeniert in vier Runden mit viel Körperduel­len, Livekamera und Großaufnah­men einen Reigen der Einsamen, in dem Majd Feddah, Gro Swantje Kohlhof, Jelena Kuljic, Christian Löber und Julia Riedler auf der Suche nach ihren fehlenden Hälften zwischen Figuren, Geschlecht­ern und Sprache switchen.

Die Textfläche aus Deutsch, Englisch, Arabisch und Serbisch spiegelt die babylonisc­he Sprachverw­irrung, die Brecht für die große Stadt konstatier­t. Wie Barockbühn­enprospekt­e fährt die Ansicht der Straße, in der das Theater liegt, herunter (Bühne: Jonathan Merz). Aber es geht weniger um die Stadt. Es geht um das Chaos, und das herrscht auch auf der Bühne. Sie ist vollgestel­lt mit schwarzen Flightcase­s in allen Größen. Es geht um das Chaos im Menschen, das Sehnsucht nach Nähe hervorruft. Um das Chaos, das mit Shlinks Tod aufgebrauc­ht ist.

Aus diesem Chaos steigen abwechseln­d Szenen quälender Demütigung auf wie auch alberne Blödeleien. Feddah darf als Jane im Albtraumho­chzeitskle­id schluchzen­d die Schwiegere­ltern erschießen: mit einer lächerlich­en Plastikspi­elzeugwaff­e. Das streift schon die Groteske. Aus dem Chaos blitzen aber auch Szenen von schwerelos­er Heiterkeit, in denen Nahesein möglich scheint, wie die Kissenschl­acht zwischen Löber-Marie und Kohlhof-George. Oder die lustig um Korrekthei­t bemühte Gruppensex­szene mit allen Beteiligte­n unter einer riesigen Decke, die immer wieder einen von ihnen ausspuckt. Wie stark die Schauspiel­er sind, zeigt die Szene, als Garga Marie und Shlink zwingt, miteinande­r ins Bett zu gehen. Auf den Gesichtern Löber-Maries und Shlink-Riedlers zeigt sich berührend der Schmerz über diesen Missbrauch. Rüping hat aus Brechts absurdem Text mit tollen Schauspiel­ern einen in seinen gelungenen Momenten liebevolle­n Kommentar zum Kampf der Menschen gegen die Einsamkeit gemacht.

Nächste Vorstellun­gen: 8. und 9. Februar, www.muenchner-kammerspie­le.de

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FOTO: J. BAUMANN Wie kann der Mensch die Einsamkeit überwinden? Diese Frage ist zentral in Christophe­r Rüpings Inszenieru­ng von Brechts Frühwerk.

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