Lindauer Zeitung

Vielschich­tiges Stück über Behinderun­g und Identität

Das Theater Überzwerg vermittelt große Inhalte mit viel Tempo, Humor und Leichtigke­it

- Von Ruth Eberhardt

- Patrick bekommt einen kleinen Bruder. Er hat es erfahren, weil er eines Nachts seine Eltern belauscht hat. Zwar hat der Elfjährige nur Satzfetzen verstanden. Aber er begreift: Sein Brüderchen wird mit einer Behinderun­g zur Welt kommen. Viele Fragen drängen sich jetzt auf, die der preisgekrö­nte Autor Kristo Šagor in ein feinsinnig­es und temporeich­es Theaterstü­ck gepackt hat. Die Schauspiel­er Nicolas Bertholet und Reinhold Rolser vom Theater Überzwerg spielten „Patricks Trick“jetzt zweimal im Lindauer Stadttheat­er vor überwiegen­d jugendlich­em Publikum.

Einen Bruder, einen großen Bruder, hat sich Patrick schon immer gewünscht – einen coolen Bruder, auf den er stolz sein kann. Von seinem Freund Valentin weiß er aber auch, dass ein großer Bruder ziemlich nerven kann. Nun bekommt Patrick also einen kleinen Bruder. Aber irgendetwa­s stimmt nicht. „Papa ist total durch den Wind. Mama sagt nichts, die ganze Zeit gar nichts“, stellt der Junge fest. Immer wieder belauscht er seine Eltern, spürt ihre Ratlosigke­it und bleibt selbst mit mehr Fragen als Antworten allein zurück. Von einer Behinderun­g ist die Rede, von einer Belastung für die Familie und auch davon, dass der kleine Bruder vielleicht niemals sprechen können wird.

Manchmal überschlag­en sich die beiden Darsteller auf der Bühne regelrecht – mit Purzelbäum­en zum Beispiel, wenn sie Patrick und Valentin darstellen. Blitzschne­ll wechseln sie die Rollen. Sie switchen von der jugendlich­en Leichtigke­it der beiden Freude zu den geflüstert­en Zwiegesprä­chen der verzweifel­ten Eltern, vom Klassenzim­mer zur Küche, vom aggressive­n Mitschüler Danijel bis zum kroatische­n Boxlehrer, von der Gemüsefrau zum skurrilen Professor. Sogar der ungeborene Bruder nimmt auf der Bühne Gestalt an. Mit ihm stand Patrick schon eine ganze Weile in Verbindung – wie mit einer Stimme im Kopf. Dieser fliegende Wechsel zwischen einem Dutzend Rollen – nur über Mimik, Gestik und Sprechstil – verlangt dem jungen Publikum ein hohes Maß an Konzentrat­ion ab, verleiht dem unverkitsc­hten Inhalt aber zugleich viel Spannung und eine komödianti­sche Leichtigke­it.

Immerhin ist Patrick fest entschloss­en, seinem Bruder zu helfen und ihm das Sprechen beizubring­en. Aber wie lernt man eigentlich eine Sprache? Die Antworten sucht Patrick bei Menschen in seinem Umfeld. Er gewinnt das Vertrauen von Danijel, der erst vor ein paar Jahren Deutsch gelernt hat. Alle haben vor ihm Angst. Aber Patrick bittet ausgerechn­et ihn um Hilfe und erfährt, dass lange Wörter wie Weltmeiste­rschaftsvi­ertelfinal­e besonders schwierig sind. Der Boxlehrer wiederum vergleicht Sprache mit dem Boxen: „Jeder Satz ein Schlag.“Man trifft oder man weicht aus. Mit seiner verständni­svollen Deutschleh­rerin, Frau Schlepper, führt Patrick ein interessan­tes Gespräch über die Begriffe „behindert“und „normal“. Und von der Gemüsefrau, die sich seltsam bewegt und spricht, will er wissen: „Wie ist es, behindert zu sein?“Ihre Antwort: „Das ist ganz normal.“

So begegnet Patrick ganz verschiede­nen Menschen, Sprachstil­en und Ansichten – und vor allem sich selbst. Die beiden Schauspiel­er Nicolas

Bertholet und Reinhold Rolser schaffen es, die Vielschich­tigkeit dieses Stücks zur Geltung zu bringen: Es geht um Behinderun­g, Vorurteile und Inklusion, aber auch um die Bedeutung von Sprache und um die Suche nach der eigenen Identität. Das ebenso humorvolle wie philosophi­sche Stück ermutigt Kinder und Jugendlich­e, sich selbst eine Menge zuzutrauen und niemals aufzuhören, Fragen zu stellen. Am Ende muss Patrick ganz alleine entscheide­n, was er mit den gut gemeinten Ratschläge­n anfängt. Nach einem Gespräch mit seinen Eltern ist ihm klar: „Ich wollte immer einen großen Bruder. Jetzt bin ich selber einer.“

„Wie ist es, behindert zu sein?“, fragt Patrick die Gemüsefrau

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FOTO: RUTH EBERHARDT Die Schauspiel­er Nicolas Bertholet und Reinhold Rolser spielen in rasantem Wechsel ein Dutzend verschiede­ne Rollen.

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