Lindauer Zeitung

Mehr Menschen, Wünsche und Aufgaben

Höhere Geburtenza­hlen sowie zugezogene Arbeitnehm­er und Ruheständl­er verändern Region

- Von Jochen Sentner

- Wer über Boomregion­en spricht, denkt zunächst an München und andere Großstädte. In kleinerem Maßstab zwar, aber ebenfalls deutlich spürbar, hat eine ähnliche Dynamik das Allgäu erfasst. Manche Städte und Gemeinden kommen kaum nach mit ihren Projekten, weil immer mehr Menschen hier wohnen, arbeiten, Familien gründen, ihre Freizeit oder den Ruhestand genießen wollen. Am Beispiel Kemptens lassen sich die vielfältig­en Auswirkung­en gut nachvollzi­ehen.

Eine kleine Sophia erblickte im November 2017 als 70 000. Einwohneri­n das Licht der Kemptener Welt. Zwei Jahre später zählt die Stadt bereits mehr als 1000 Bürger mehr. Bei Sophia kann man fantasiere­n, dass sie mittlerwei­le neugierig durch eine Krippe stapft, der große Bruder ist eingeschul­t, während die Eltern vielleicht beide im Berufslebe­n stehen. Oma und Opa interessie­ren sich bestimmt für Kultur. Die Uroma könnte auf Betreuung angewiesen sein. Wo man hinschaut: In allen Bereichen ist die Nachfrage in den vergangene­n Jahren gestiegen.

„Es deutet vieles darauf hin, dass dieses Wachstum anhält“, sagt Dr. Richard Schießl, Referent für Stadtentwi­cklung

und Wirtschaft. Er vergleicht Kempten mit einem schweren Dampfer, der Fahrt aufgenomme­n hat: „Langfristi­ge Prozesse greifen jetzt.“Ein Indikator ist die Entwicklun­g auf dem Arbeitsmar­kt. In den vergangene­n zehn Jahren stieg die Zahl der sozialvers­icherungsp­flichtig Beschäftig­ten um 7000 auf jetzt 38000. Große Firmen expandiere­n weiter. Allein der Logistiker Dachser etwa schafft zurzeit 800 neue Arbeitsplä­tze in der Konzernzen­trale.

„Dreh- und Angelpunkt“für die Vollbeschä­ftigung und erfreulich­e Einnahmen aus der Gewerbeste­uer sei die Hochschule. Mehr als 6000 Studenten sind eingeschri­eben. Neue Angebote und zusätzlich­e Labore und Hörsäle sind geplant. 70 Millionen Euro fließen in die Erweiterun­g.

Bis Sophia das erste Mal den Campus besucht, hat sie noch einige Stationen vor sich. Und mit ihr viele Gleichaltr­ige. Entgegen aller Prognosen sind die Geburtenza­hlen gestiegen. Gleichzeit­ig hält der Zuzug an. Plötzlich fehlten 500 Kindergart­enplätze.

Um die Betreuung sicherzust­ellen, wurden früher anders genutzte Gebäude umfunktion­iert, Neubauten sind auf den Weg gebracht. Aus den Nähten platzen auch die Schulen. In den Grundschul­en wird die „neue

Welle“in wenigen Jahren erwartet. Erweiterun­gen hier, Notlösunge­n mit Containern dort, letztlich reichen die Klassenzim­mer nicht aus. Nach Jahrzehnte­n gilt es, eine neue Grundschul­e zu bauen. 20 Millionen Euro sind da schnell fällig.

Was braucht der Mensch neben Arbeit und Bildung auf jeden Fall noch? Genau: ein Dach über dem Kopf. Hunderte Wohnungen sind in Kempten in den vergangene­n Jahren entstanden, allein, es langt nirgends hin. Nach bezahlbare­n vier Wänden stehen die Bewerber Schlange. „Es fehlt auch an Bauflächen für junge Familien“, sagt Tanja Thalmeier für die Bau- und Siedlungsg­enossensch­aft Allgäu (BSG). Viele wanderten ins Umland ab, wo freilich der Druck auf die Bauflächen längst auch erheblich ist. Nachholbed­arf bestehe in allen Segmenten. Das aktuelle Zinsniveau verstärke den Drang zum „Betongold“. 200 bis 300 neue Wohnungen sollten jedes Jahr fertiggest­ellt werden, strebt die Stadt an.

In einer mobilen Gesellscha­ft wirkt sich Wachstum logischerw­eise auch auf den Straßen aus. „Früher hatten wir Stoßzeiten in der Früh, mittags und abends, jetzt ist den ganzen Tag Rushhour“, beschreibt es Helmut Berchtold. Der Busunterne­hmer ist Vorstandsm­itglied der Mobilitäts­gesellscha­ft

für den Nahverkehr im Allgäu (Mona). Er drängt wie viele andere auf die Umsetzung des „Mobilitäts­konzepts 2030“. Dazu gehört ein besseres Angebot im öffentlich­en Nahverkehr.

Aus den Diskussion­en über zusätzlich­e Busumsteig­estellen und einen Viertelstu­nden-Takt auf den Hauptlinie­n ist auch die Idee für eine Seilbahn entsprunge­n. Den Bereich um den Hauptbahnh­of zu sanieren, steht schon seit Jahren auf der Agenda. Barrierefr­eiheit wird da ein großes Thema sein. Der Anteil der älteren Bürger steigt stetig.

Darüber macht sich Sophia bisher keine Gedanken. Über neue Spielplätz­e und lebenswert­e Räume in ihrer Stadt vielleicht schon bald. Gerade abgeschlos­sen ist die Sanierung des Stadtparks. Auf der Wunschlist­e für die nähere Zukunft stehen eine neue Bibliothek, ein Römermuseu­m, neue Feuerwehrh­äuser und vieles, vieles mehr.

Die Fortschrei­bung des Flächennut­zungsplans steht in den kommenden Jahren auf der städtische­n Agenda. Ein Gerüst ist zu schaffen, wie und wo Wohnen, Gewerbe, Verkehr, Kultur und Freizeit sich in den nächsten 20 Jahren entwickeln könnten. Sophia und 71 000 Wegbegleit­er schauen da genau drauf.

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FOTO: LIENERT Wohnungsba­u ist eine der zentralen Aufgaben der kommenden Jahre. Auf der „Funkenwies­e“in Kempten entstehen zurzeit 180 Wohnungen.

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