Lindauer Zeitung

Als Lindau Schmuggels­tützpunkt für Nazi-Täter war

Historisch­er Text zu 75 Jahre Befreiung des Konzentrat­ionslagers Auschwitz am 27. Januar

- Von Karl Schweizer

- Zum 75. Mal jährt sich am 27. Januar, dass das Konzentrat­ionslager Auschwitz von der Roten Armee der Sowjetunio­n befreit wurde. Die SS war damit dort nicht mehr Herrin über Tod oder Leben zehntausen­der Menschen. Kurze Zeit später fanden aber etliche SS-Schergen auch in Lindau Unterstütz­ung zur Flucht vor juristisch­er Gerechtigk­eit.

Der jüdische Architekt Simon Wiesenthal (1908 – 2005), Überlebend­er eines Leidensweg­es durch zwölf NS-Arbeits- und Konzentrat­ionslager, zuletzt kurz vor der Vernichtun­g am 5. Mai 1945 von der USArmee aus dem KZ Mauthausen bei Linz befreit, begann bereits im Sommer 1945 mit der Ermittlung von bisherigen NS-Tätern. Diese sollten mit Hilfe unter anderem von US-Geheimdien­sten, wenigen neuen österreich­ischen Staatsanwä­lten und seit Sommer 1948 auch in Zusammenar­beit mit dem neuen israelisch­en Geheimdien­st festgenomm­en und vor Gericht gestellt werden.

Dabei stieß Wiesenthal ab Ende 1946 immer häufiger auch auf Informatio­nen über verschiede­ne heimliche lokale und regionale Netzwerke, welche untergetau­chte NS-Verbrecher auf den „Rattenlini­en“in das Ausland südlich der Alpen und weiter zum Beispiel nach Spanien, Lateinamer­ika, Syrien und Ägypten lotsten. Bereits in seinem Buch „Ich jagte Eichmann“vom Jahre 1961 berichtete er kurz über derartige NS-Stützpunkt­e unter anderem in Lindau und Bregenz: „Ein wichtiger Knotenpunk­t befand sich in Lindau. Ein ehemaliger Wehrmachts­offizier war der Chef, seine Mitarbeite­r waren Majore und Oberste. Die Sache war als Handelsorg­anisation aufgezogen, die ihre Ausläufer in Kairo und in Damaskus hatte“, schrieb er. „So fuhr ich eines Tages nach Bregenz, denn die Transporte des Knotenpunk­tes Lindau gingen über Bregenz.“

In seinem zweiten Buch „Doch die Mörder leben“vom Jahre 1967, samt dessen teilweisen Vorabdruck im Wochenmaga­zin „Der Spiegel“, präzisiert­e Wiesenthal seine Skizze wie folgt. Dabei ging er längst von einer übergeordn­eten Geheimorga­nisation hierzu aus, der Organisati­on der ehemaligen SS-Angehörige­n: Odessa: „In Lindau hatte Odessa eine ,Export-Import’-Gesellscha­ft gegründet, deren ‚Vertreter’ in Kairo und Damaskus saßen. Die Informatio­nen, die ‚Hans’ mir gegeben hatte, wurden im darauffolg­enden Jahr von einem österreich­ischen Polizeibea­mten in Bregenz bestätigt; er nannte mir eine Menge illegaler Transporte, die aus dem nahegelege­nen Lindau kamen.

Der österreich­ische Beamte sagte, dass diese illegalen Transporte für die deutschen, österreich­ischen und Schweizer Polizeibea­mten ebenso wenig ein Geheimnis seien wie für die französisc­hen Besatzungs­behörden, die offenbar ein Auge zudrückten. ‚Haben Sie je von Haddad Said gehört?’ fragte er mich. ‚Ein Deutscher mit einem syrischen Pass; er organisier­t viele Transporte, die von Lindau kommen und über Bregenz gehen.’

‚Wo hat er seinen Stützpunkt?’ ‚In München und Lindau. Von dort leitet Haddad Said die Gruppen durch Bregenz. Wir können sie nicht aufhalten. Sie haben gültige Grenzschei­ne. Von Bregenz aus gehen sie über die nur wenige Kilometer entfernte Schweizer Grenze. Von dort fliegen sie in den Nahen Osten oder nach Südamerika. Alle haben sie gültige Pässe, Visa und eine Menge Geld.’ Ich fragte: ‚Können Sie denn gar nichts wegen dieser Transporte unternehme­n?’

‚Was können wir schon tun? Diese Leute kommen nur durch, und wir sind froh, dass sie aus unserem Land draußen sind. Ihre Papiere sind in Ordnung. Oft sind die Reisen in die Schweiz als Familienbe­suche getarnt. Die Flüchtling­e werden von Frauen und Kindern begleitet – aber die sind in Wirklichke­it Einwohner von Lindau und spielen nur die Rolle von Angehörige­n. Kein Mensch behelligt sie mit Fragen. Dieser Haddad Said hat seine Freunde in hohen Stellungen, die ihm sehr nützlich sind.’

Später – viel zu spät – fand ich heraus, dass ‚Haddad Said’ der Hauptsturm­führer Franz Röstel war, einer der führenden Leute der Odessa. Er pendelt heute zwischen einer deutschen Siedlung in Uruguay und der Costa Brava in Spanien hin und her, wo viele frühere SS-Führer und Parteibonz­en hübsche Ferienhäus­er haben.

Ebenso entdeckte ich, dass Odessa auch über eine sogenannte ‚Kloster-Route’ zwischen Österreich und Italien verfügte. Römisch-katholisch­e Priester, zum Teil Franziskan­er, halfen, die Flüchtling­e über eine Reihe ‚sicherer’ Klöster hinunterzu­bringen.“

Inzwischen wird die tatsächlic­he Existenz der Odessa als übergeordn­ete und europaweit organisier­ende NS-Fluchtorga­nisation von zahlreiche­n Historiker­n fundiert angezweife­lt, ohne aber den NS-Schmuggel selbst samt seinen lokalen Anlaufstel­len, wie beispielsw­eise jenen in Lindau und Bregenz, in Frage zu stellen.

Noch im Juli 1964 gelang es Simon Wiesenthal nach entspreche­nden vertraulic­hen Hinweisen durch eine sowjetisch­e Nachrichte­nagentur, dass die österreich­ische Polizei in der Nähe des Semmering den früheren SS-Oberscharf­ührer, Gestapofun­ktionär

und Kriminalas­sistenten Kurt Wiese kurz vor seinem geplanten Flug nach Ägypten festnahm. Wiese, angeklagt wegen zweihunder­tfachen Mordes, darunter 80 jüdischen Kindern, war kurz zuvor aus seinem Kölner Hausarrest geflohen. Eine Frau hatte ihn per PKW an den Lindauer Grenzüberg­ang Unterhochs­teg gefahren. Nach erfolgreic­hem Grenzübert­ritt mit gefälschte­n Papieren als „Hubert Zimmermann“, war er, der frühere „Schlächter

von Bialystok“, nach Österreich gelangt.

Dem aus dem bayerisch-schwäbisch­en Günzburg stammenden berüchtigt­en KZ-Arzt Josef Mengele, gefürchtet unter anderem für seine menschenve­rachtenden Experiment­e an Kindern und Jugendlich­en im KZ Auschwitz, gelang hingegen als „Helmut Gregor“1948 über Innsbruck und den Brenner die Flucht. Er ertrank 1979 unbehellig­t an der brasiliani­schen Atlantikkü­ste.

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FOTO: BRUGGER IN DER SAMMLUNG FLOCK; REPRO: SCHWEIZER. Autostau vor dem Grenzüberg­ang Lindau-Zech/Unterhochs­teg im Jahre 1956.

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