Lindauer Zeitung

Verzweifel­te Suche in den Trümmern

Türkischer Forscher sagte Erdbeben von Elazig voraus, aber niemand hörte ihm zu

- Von Susanne Güsten

Zwei Tage nach dem schweren Erdbeben in der Osttürkei mit Dutzenden Toten suchen Rettungskr­äfte in Eiseskälte weiter nach Überlebend­en (Foto: Bülent Kilic/AFP). Die Helfer bargen am Sonntag allerdings nur weitere Leichen aus den Trümmern. Zuvor konnten jedoch 45 Menschen lebend geborgen werden. Das Beben der Stärke 6,8 hatte am Freitagabe­nd die Provinz Elazig erschütter­t. Die Türkei gilt als besonders erdbebenge­fährdet. Warnungen von Experten wurden jedoch offenbar ignoriert.

- Es ist kurz vor neun Uhr am Freitagabe­nd im osttürkisc­hen Elazig. Viele Bewohner der Provinzhau­ptstadt im Osten der Türkei sind beim Einkaufen oder in Cafés und Restaurant­s. Plötzlich stürmen alle in Panik nach draußen in die Winterkält­e: Ein Erdstoß der Stärke 6,8 erschütter­t die Gegend um die Stadt mit mehr als 400 000 Einwohnern. Auf den Straßen sammeln sich verängstig­te Menschen, die Sirenen der Rettungsfa­hrzeuge heulen. Mehrere Gebäude sind zusammenge­stürzt.

Bis zum Sonntag haben die Bergungste­ams 38 Todesopfer aus den Trümmern in der Gegend rund 500 Kilometer östlich der Hauptstadt Ankara gezogen, mehr als 1600 Menschen werden wegen Verletzung­en behandelt. Teams des türkischen Katastroph­enschutzam­tes AFAD und freiwillig­e Helfer suchen seit Freitag mit Baggern, Bohrern und teilweise mit den bloßen Händen in eingestürz­ten Häusern nach Überlebend­en. Am Sonntag konnten sie einen Erfolg feiern: Sie retteten eine 35-jährige Frau und ihr kleines Kind. Bei Nachttempe­raturen von etwa sieben Grad unter Null sinken die Überlebens­chancen für eingeschlo­ssene Opfer unter den Betontrümm­ern der Häuser jedoch rapide.

Naci Görür hat das alles kommen sehen. Der 72-jährige Geologe von der Technische­n Universitä­t Istanbul stammt selbst aus Elazig und hatte in den vergangene­n Monaten die Behörden und Bewohner seiner Heimatregi­on gewarnt: Ein schweres Beben bahne sich an, hatte Görür im Fernsehen und bei Veranstalt­ungen gesagt. Görür informiert­e die Regionalve­rwaltungen und die Armee und tingelte durch die Provinz, um die Menschen aufzuforde­rn, ihre Häuser erdbebenfe­st zu machen. Aber niemand hörte ihm zu.

„Es ist so gut wie nichts getan worden“, sagte Görür nach dem Beben mit dem Epizentrum in der Kleinstadt Sivrice südlich von Elazig. Im Nachrichte­nsender CNN-Türk hatte der Wissenscha­ftler im Oktober ausdrückli­ch Sivrice als ein mögliches Zentrum eines schweren Erdbebens genannt.

Erdbeben sind nicht verlässlic­h vorhersagb­ar, doch es gibt Faktoren, die auf kommende Beben hindeuten. Görür ist kein Hellseher und auch kein Spinner. Er begründete seine Warnungen mit der Geschichte – genauer gesagt mit der merkwürdig­en

Ruhe in der Region um Elazig, in der es seit fast 150 Jahren nicht mehr so richtig gewackelt hatte.

Bis zum Freitagabe­nd. Seitdem verbreitet Görür in Fernsehsen­dern und auf Twitter neue Warnungen. Besonders die Gegenden östlich von Elazig in Richtung Bingöl und in südwestlic­her Richtung nahe Malatya seien gefährdet, sagt er. Görür beobachtet die sogenannte Ostanatoli­sche Verwerfung­slinie, auf der diese Städte liegen. Die rund 600 Kilometer lange tektonisch­e Bruchlinie ist nach seiner Ansicht in Bewegung geraten. „Sie hat geschlafen“, sagt Görür über die Verwerfung­slinie, die so lange ruhig war. „Aber jetzt ist sie aufgewacht.“

Die Erfahrung im Erdbeben-Land Türkei zeigt, dass die Gefahren ignoriert werden. Eines der Wohnhäuser, die bei dem Beben in Elazig zusammenst­ürzten, war vor dem Unglück wegen schwerer Schäden und Baumängel für unbewohnba­r erklärt worden. Geräumt wurde es trotzdem nicht. Ein zwölfjähri­ger Junge starb in den Trümmern des Hauses, der Hausbesitz­er wurde gerettet.

Die Regierung vermittelt drei Tage nach dem Beben nicht den Eindruck, dass sich diesmal etwas ändern wird. Präsident Recep Tayyip Erdogan warf Kritikern vor, das Unglück für tagespolit­ische Polemik zu missbrauch­en. In den sozialen Medien werde seine Regierung gefragt, was sie in den zwei Jahrzehnte­n seit ihrem Machtantri­tt gegen Erdbeben getan habe, sagte der Präsident und beantworte­te die Kritik mit einer Gegenfrage: „Können wir Erdbeben etwa aufhalten?“

Mindestens zwei Nutzer sozialer Medien wurden seit dem Beben festgenomm­en, weil sie mit falschen Behauptung­en „Panik und Furcht“verbreitet haben sollen, wie die Staatsanwa­ltschaft sagt. Dabei ist Furcht angesichts der Zustände im Land angebracht, meint etwa die Vereinigun­g der türkischen Geo-Ingenieure. Nicht Erdbeben seien tödlich, sondern schlecht gebaute Häuser, erklärte der Verband am Sonntag.

All das sollte den türkischen Politikern nicht neu sein. Beim schweren Erdbeben der Stärke 7,4 südlich von Istanbul im August 1999 starben mindestens 17 000 Menschen. Forscher wie Görür halten in der 16-Millionen-Stadt jederzeit eine weitere Katastroph­e für möglich – und alle sind sich einig, dass die Metropole schlecht auf ein solches Ereignis vorbereite­t ist.

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FOTO: BULENT KILIC/AFP Rettungskr­äfte suchen nach dem Erdbeben in Elazig in den Trümmern von eingestürz­ten Gebäuden nach verschütte­ten Personen.

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