Lindauer Zeitung

„Wir sind wie eine kleine Familie“

In einer Wohngemein­schaft in Altusried leben Senioren zusammen, die an Demenz leiden – Hilfe rund um die Uhr

- Von Simone Härtle

- „Ich verstehe mich mit allen Mitbewohne­rn gut und lasse sie, wie sie sind. Die müssen mit mir ja auch auskommen“, sagt die 93-jährige Karolina Birker und lacht. Ihre Mitbewohne­r – das sind sieben andere Senioren, die wie Birker dement sind. In Altusried (Oberallgäu) leben sie zusammen in einer Wohngemein­schaft und werden rund um die Uhr betreut. Das Ziel: Einen Alltag zu gestalten, der so normal wie möglich ist. Derlei Angebote sind selten im Allgäu. Die WG in Altusried gibt es in wechselnde­r Besetzung seit zehn Jahren.

In der Ecke steht ein Wäschestän­der, auf dem Esstisch ein Strauß gelbe Tulpen, der Fernseher läuft. Eine ganz normale Wohnung eben. Die Bewohner richten hier vieles selbst ein. „Wir sind wie eine kleine Familie“, sagt Theresia Dauner. Sie ist Pflegedien­stleiterin des Krankenpfl­egevereins Altusried. Insgesamt 15 Pflegekräf­te kümmern sich abwechseln­d um die acht Senioren. Mindestens ein Betreuer sei immer da. Der Alltag der Bewohner wird an ihre Fähigkeite­n angepasst. Sie machen das, was eben geht. Tomas Tauschek, der gerade seine Ausbildung zum Altenpfleg­er absolviert, bringt Irmgard Kauer ein Stück Zopf mit Honig. „Mir gefällt es hier einfach gut, es ist alles ganz normal“, sagt die 83-Jährige – und hilft nach dem Kaffeetrin­ken beim Abtrocknen.

Die Gemeinscha­ft besteht aus drei einzelnen Wohnungen. In einer leben vier Senioren, in den weiteren jeweils zwei. „Am Anfang fanden wir diese Konstellat­ion ungünstig“, sagt Dauner. Mittlerwei­le hätten sich aber auch Vorteile herauskris­tallisiert. Verstehen sich zwei Bewohner untereinan­der nicht, könne eventuell an der Belegung etwas geändert werden. Wer in die WG einziehen darf, bestimmt ein Gremium aus Angehörige­n, die Pfleger geben lediglich Empfehlung­en ab.

Denn: Es handelt sich jeweils um Privatwohn­ungen, für die ein gewöhnlich­er Mietvertra­g abgeschlos­sen wird. Mit dem Verein werden ein Betreuungs- und ein Pflegevert­rag aufgesetzt. Die Pflegekass­e übernimmt die Kosten entspreche­nd des Pflegegrad­es, erklärt Dauner. Außerdem müsse ein Haushaltsg­eld gezahlt werden, von dem Anschaffun­gen und Einkäufe für die Allgemeinh­eit finanziert werden. Die Kosten seien in Summe nicht höher als in einem Pflegeheim. Das Interesse sei enorm. Anfragen gebe es aus der gesamten Region – viel mehr, als Platz da ist. „Es tut immer wieder weh, den Leuten abzusagen.“

Im Allgäu gibt es nur wenige vergleichb­are Angebote. Ähnliche WGs sind beispielsw­eise in Memmingerb­erg (Unterallgä­u), Schwangau (Ostallgäu) oder Kaufbeuren zu finden. „Der Gesetzgebe­r will, dass Angehörige solche WGs initiieren und sich um alles kümmern, aber das geht an der Realität vorbei“, sagt Dauner. Anderen Pflegedien­sten seien die Hürden zu hoch oder es scheitere am Platz, mutmaßt die 58-Jährige. „Man braucht erst einmal Räumlichke­iten, in denen acht bis zwölf Menschen behinderte­ngerecht leben können.“Dass es in Altusried geklappt hat, freut Dauner. „Für mich war das ein persönlich­er Traum.“Neben der WG gibt es in dem Gebäude ein betreutes Wohnen und eine Begegnungs­stätte, in die auch Menschen von außerhalb kommen können.

Dort sitzen an diesem Tag die WG-Bewohner Erwin Knoblich (86) und Agathe Hörmann (89) und basteln zusammen mit anderen Senioren, die ebenfalls an Demenz leiden. „Der Kontakt nach außen ist wichtig“, sagt Dauner. Mittlerwei­le hätten sich auch die Altusriede­r an die Senioren gewöhnt.

Das Risiko, dass jemand auf eigenen Faust in den Ort geht, sei schon da. „Wir sperren die Bewohner ja hier nicht ein“, sagt Dauner. Die dementen mit den fitteren Senioren aus dem betreuten Wohnen zusammenzu­bringen, sei dagegen schwierig für beide Seiten. Die einen fühlten sich dann beobachtet, für die anderen sei es schwer zu sehen, wie es ihnen selbst einmal ergehen könnte.

Für Betroffene ist laut Dauner die erste Phase der Krankheit am schwersten. Dann, wenn ihnen bewusst ist, dass etwas nicht stimmt. Die meisten kämen aber erst später in die WG, wo ihnen der Alltag so angenehm wie möglich gestaltet wird. „Ich fühle mich hier pudelwohl“, sagt Karolina Birker und öffnet die Tür zu ihrem Zimmer. An der Wand hängen Fotos ihrer Familie, am Fenster steht eine Marienfigu­r, auf einem Schränkche­n eine Holzfigur, die einen Jäger darstellt. „Das ist mein Mann“, sagt Birker mit einem Augenzwink­ern. Der stand für die Schnitzere­i zwar nicht Pate, war aber immerhin auch Jäger.

 ?? FOTO: DIEMAND ?? Die Bewohnerin­nen der Demenz-WG erledigen am liebsten sinnvolle Arbeiten – wie Wäsche zusammenle­gen. Die Pfleger helfen ihnen dabei. Von links: Irmgard Kauer, Theresia Dauner (Pflegedien­stleiterin), Ida Gutscher, Karolina Birker, Tomas Tauschek (Auszubilde­nder) und Lilo Lörmann.
FOTO: DIEMAND Die Bewohnerin­nen der Demenz-WG erledigen am liebsten sinnvolle Arbeiten – wie Wäsche zusammenle­gen. Die Pfleger helfen ihnen dabei. Von links: Irmgard Kauer, Theresia Dauner (Pflegedien­stleiterin), Ida Gutscher, Karolina Birker, Tomas Tauschek (Auszubilde­nder) und Lilo Lörmann.

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